Teilhabe und demokratische Bildung in der Community Music
Nick Klapproth
Einleitung
Das Feld der Community Music wächst. Der Begriff gewinnt innerhalb der deutschsprachigen kulturellen Bildung immer mehr an Bedeutung. Es sind bereits erste Pionierarbeiten geleitstet, Projekte und Formate etablieren sich, so auch an der Offenen Jazz Haus Schule in Köln. Seit über zehn Jahren kommt das inklusive Stadtteilorchester „Sounds of Buchheim“ zusammen, probt, wächst, führt auf und versteht sich als selbstverständlicher Teil einer lebendigen und breiten Kulturszene. Das „JCO“ (Jazzhaus Community Orchester) entwickelt sich ebenfalls zum erfolgreichen und für die Teilnehmer*innen verlässlichen, inklusiven Ensemble: Konzerte bei der Cologne Jazzweek oder in der Philharmonie Köln sprechen für sich. Projekte, welche sich an sowohl an geflüchtete Kinder und Jugendliche als auch an Kinder und Jugendliche der Kölner Stadtgesellschaft richten, sind inklusiv angelegt und verfolgen dabei ein Ziel: Eine musizierende Community soll entstehen, die als musikalisch produktive Gruppe die Bühne erobert und aktiv die Musikszene in Köln mitgestaltet.
Die Offene Jazz Haus Schule Köln ist seit ihrer Gründung ein Ort, an dem mehrheitlich in Gruppenkontexten, d. h. in Bands und Ensembles musiziert wird – flankiert von anderen künstlerischen Ausdrucksformen wie Tanz und Theater. Zumindest stellen Bands einen wesentlichen Horizont jeder musikalisch-pädagogischen Bemühung an der Offenen Jazz Haus Schule dar. Im Mittelpunkt der Praxis stehen also in der Regel Gruppenkontexte. Diese musikalischen Räume, häufig verankert in soziokultureller, demokratisch ausgerichteter Projektarbeit, schaffen seit jeher Gelegenheiten, in denen die Menschen Kölns gemeinsam Musik machen – unabhängig ihrer sozialen oder ökonomischen Situation, ihres Gesundheitszustandes oder ihrer musikalischen Vorbildung.
Dabei geht es nicht nur um musikalisches Tun im engeren Sinne, sondern um etwas Tieferes: Gemeinschaftlich geteilte ästhetische Erfahrung – das ist ein Kernelement ästhetischer Theorie (und demokratischer Bildung), wie wir sie bereits beim US-amerikanischen Pragmatiker und Philosophen John Dewey kennenlernen. Deweys Denken bietet eine theoretische Referenz, um Community Music nicht nur als Genre, Methode oder Spielart kultureller Bildung zu verstehen, sondern als kulturelle Praxis und Form demokratischer Teilhabe zu begreifen – und um der Frage nachzugehen, was Musik aus der „Community heraus“ für die demokratische Bildung leisten kann.
Wie bereits oben beschrieben, wächst das Feld, ohne dass bisher eine wirkliche Theorie der Community Music – zumindest für den deutschsprachigen Raum – zu Grunde liegt. Dieser kurze Beitrag möchte in wenigen, kurzen Schritten eine kurze Theorie der Community Music skizzieren:
- Zuerst möchte ich dafür den Begriff der Erfahrung, wie wir ihn bei John Dewey finden, nachzeichnen.
- Zweitens gehen wir der These nach, dass Community Music Settings einen Raum „geteilter Erfahrung“ darstellen.
- Drittens soll ein letzter Schritt die These aufmachen, dass gemeinsame ästhetische Erfahrungsräume sich hervorragend für demokratische Bildungsprozesse anschlussfähig machen lassen.
1. Deweys Begriff der ästhetischen Erfahrung
Der Kulturellen Bildung wird viel zugetraut: Wir wollen, dass Menschen auch an der Kultur teilhaben. Dass Kulturelle Bildung einen Beitrag leistet, diese Teilhabe zu verwirklichen, steht hier nicht zur Diskussion. Kulturelle Bildung oder gruppenmusikalische Prozesse, so wie wir sie verstehen, drehen sich um gemeinsame, ästhetische Erfahrungen.
Was ist eine Erfahrung? Diese zuerst banal anmutende Frage, wie kommt überhaupt ein Eindruck, eine Interaktion zwischen Individuen oder auch zwischen Hörenden und dem Werk zustande, ist eine zutiefst bildungstheoretische Fragestellung. Mit der Erfahrung ist ein Subjekt-Welt-Bezug gemeint, der die Bewegung zwischen Individuum und der „Welt“ beschreibt, wie sie – Laut Dewey – allem Leben innewohnt. Dewey schreibt, dass die „Interaktion zwischen lebendigem Geschöpf und Umwelt Teil des eigentlichen Lebensprozesses“ ist (Dewey 1980, S. 47)[1]. Das heißt, es werden immer Erfahrungen gemacht, solange das Leben andauert.
Er schränkt dies nur in dem Sinne ein, dass die Erfahrungen noch fragmentiert, ohne wirklichen Sinnzusammenhang gemacht werden, bevor sie jenseits des Alltäglichen, also handwerkliche, intellektuelle oder gar ästhetische Qualität erlangt. Bloße Sinneseindrücke sind also noch lange keine ästhetischen Erfahrungen. Erst wenn die Handlung oder deren Wahrnehmung in sich stimmig, durch eine Spannung hindurch zu einem Abschluss geführt werden, wenn also ein emotional oder intellektuell bedeutsamer Zusammenhang entsteht, spricht Dewey von einer „Erfahrung“ im empathischen Sinne (ebd., S. 54).
Für Dewey entsteht Kunst nicht in der Abgrenzung zum Alltag, sondern aus den Lebensbezügen der Menschen. Ästhetische Erfahrungen wurzeln in emotional bedeutsamen, sinnlich gestalteten Prozessen, in denen Individuen mit ihrer Umwelt in Kontakt treten – nicht nur kognitiv, sondern handelnd, spürend, reflektierend:
„Indem wir uns eine Erfahrung nachträglich noch einmal vor Augen führen, stellen wir vielleicht fest, dass eine bestimmte Eigenschaft so weit vorherrschend war, dass sie die Erfahrung insgesamt prägte.“ (ebd., S. 49)
2. Community Music als Raum geteilter Erfahrung
Dass Dewey der Überzeugung ist, dass Kunst als Mittel zur Förderung des Verständnisses von und der Entwicklung eines Gemeinschaftssinns einer Gesellschaft darstellt, findet sich gegen Ende von „Kunst als Erfahrung“. Einen Anhaltspunkt dazu liefert das letzte Kapitel, in denen Dewey historisch die Funktionen von Kunst entlang verschiedener Epochen darstellt und auf die Möglichkeit der „gemeinschaftlichen Erfahrung“ (ebd., S. 386) zu sprechen kommt. Die athenische Lyrik, das Drama, die Architektur oder die Skulptur beschreibt er als „Tätigkeitsweisen [die, NK] das Praktische, Soziale und Erzieherische in einem integrierten Ganzen vereinen. Sie führten […] soziale Werte in die Erfahrung ein.“ (ebd., S. 379)
Wie kommen wir an dieser Stelle zur Community Music? Community Music oder musikalische Gruppenprozesse, wie sie Community Music im Sinn haben, spielen mit den Gestaltungsmöglichkeiten ästhetischer Prozesse. Anders gesagt: Die Wirklichkeit (in Form von Musik) wird nicht konsumiert (wie es uns die Industrie nur wärmstens nahelegt), sondern sie wird gestaltet. Und das im Austausch mit anderen, in Form von Klang, Bewegung, Diskurs und gegenseitiger Bezugnahme, bspw. in Improvisationskontexten. Hier wird Kunst zur geteilten Erfahrung – nicht im Sinne des klassischen Konzertformats, sondern als kollektiver Prozess in der Gestaltung von Bedeutung und Ausdruck.
3. Community Music als demokratische Bildung
Das Community Music-Ensemble wird in diesem Sinne – mit Dewey gesprochen – zu einem Ort, an dem Menschen sich ausdrücken können, ohne beurteilt zu werden. Gleichzeitig machen die gemeinsame Erfahrung und Gestaltung es möglich, dass sich echte Verbindungen und Begegnungen innerhalb dieser Räume auftun. Nicht etwa durch „Gleichheit“, sondern in Anerkennung und Gestaltung der Differenz der Mitglieder des Ensembles untereinander, des Klangs und der gemeinsamen Raum- und Zeitgestaltung – eben im Medium der Musik. Wem begegnen wir in unseren Kontexten? Und wie verorte ich mich als Mensch in einem großen Ensemble wie dem Stadtteilorchester? Was ist mir wichtig an der gemeinsamen Musik? Was bin ich als Individuum bereit zu geben und zu gestalten an der gemeinsamen Musik?
Indem wir uns in der Gruppe über diese Fragen austauschen – ob implizit oder explizit – bewegen wir uns auf das Gebiet einer zutiefst demokratischen Bildung: Wie entwickeln wir Empathie, Teilhabe oder Verantwortung untereinander in der Anerkennung der Vielfalt eines inklusiven Ensembles?
Mit John Dewey lässt sich so eine sinnvolle und sinngebende Begründung für Community Music formulieren, die jenseits funktionaler Zuschreibungen wie sozialer Integration oder Bildungsförderung liegt – und die musikalische Erfahrung selbst ins Zentrum rückt. Während der Diskurs um Community Music, auch der um kulturelle Bildung, sich sonst ihren Wert und ihre Legitimität vor allem in sozialpädagogischen Wirkungen sucht, eröffnet dieser Gedankengang, an John Dewey orientiert, eine Perspektive, in der ästhetische Erfahrung selbst zum Ort des Sinns wird – und so eine tiefere, existenzielle Begründung einer Community Music-Praxis ermöglicht.
[1] John Dewey (1987): Kunst als Erfahrung. Suhrkamp, Frankfurt am Main.