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Geigenraum
Dokumentation des musikpädagogischen Projektes "Geigenraum"

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Einleitung

Der Geigenraum ist ein Projekt im Rahmen der von Thomas Gläßer konzipierten Plattform „KlangKörper“1, das seit Frühjahr 2016 an der Grundschule Kunterbunt (derzeitiger Standort: Köln-Vogelsang) unter der gemeinsamen Leitung von mir (Axel Lindner) und dem Lehrer Johannes Krause umgesetzt wird.

Als Workshop im Rahmen eines Aktionstages von KlangKörper einmalig durchgeführt, wurde das Format auf Anregung der Schule als wöchentlich stattfindendes Angebot installiert und seitdem von Thomas Gläßer, Johannes Krause und mir in Kooperation mit der Schulleitung konzeptionell und infrastrukturell weiterentwickelt. In diesem Zuge wurde zusätzlich zu zwei leistungs- bzw. erfahrungsdifferenzierten offenen Angeboten zuletzt eine 45-minütige Einzelunterrichtsphase eingerichtet, an der derzeit in 15minütigen Intervallen drei besonders interessierte Kinder teilnehmen. Der musikpädagogisch-künstlerische Ansatz, die angewandten Methoden, sowie die Infrastruktur des Geigenraums sollen im Folgenden beschrieben werden.

 Idee, musikpädagogische Grundsätze und Einbettung in das Schulleben

Der Geigenraum ermöglicht einer Vielzahl von Kindern der Schule Kunterbunt die Beschäftigung mit dem Instrument Violine in verschiedenen Formen und Ausprägungen.

Jedem regelmäßig teilnehmenden Kind werden grundsätzliche technische Fähigkeiten auf dem Instrument vermittelt, jedoch gibt es keine vorformulierten Lernziele gegenüber den Teilnehmern. Vielmehr ist angestrebt, durch kontinuierliches miteinander Musizieren und Sich-gegenseitig-Zuhören bei der Präsentation von Ergebnissen eine Art Sogwirkung in Richtung Musik, Begeisterung für musikalische Klangerzeugung und Motivation zum Erlernen und Spielen von Musikstücken auszulösen.

Die Qualität des Formates hängt im Allgemeinen von zwei Komponenten ab:

  1. Die musikpädagogische Konzeption, der ein zentraler Leitgedanke der Offenen Jazz Haus Schule zugrunde liegt: „Musik von Anfang an!“
    Für den Geigenraum bedeutet das: Es wird soviel wie möglich begleitet bzw. gemeinsam musiziert. Schon die ersten elementaren Übungen für neue Mitspieler werden durch eine phantasievolle und harmonisch reichhaltige Begleitung musikalisch aufgewertet. Im Verlauf der Arbeit wird stets nach Möglichkeiten gemeinsamen Musizierens gesucht. Am Ende dieser Entwicklung stehen Vortragsstücke, die, zum Teil auf Spielideen der Kinder basierend, von mir für Violinstimme mit Klavier auskomponiert werden und entweder in der Duo-Besetzung oder im Ensemble gespielt werden können. Dies geschieht immer mit der Vorstellung, Musik zu erfinden, die dem Anfang des Geigenspiels unter spieltechnischen Aspekten maximal entgegenkommt und gleichzeitig im Bezug auf Melodik, Harmonik, Rhythmik und Instrumentation möglichst komplex und ästhetisch ansprechend gestaltet ist. Bisher ist die Violinstimme dabei einstimmig gesetzt und wird zumeist von einem, manchmal von mehreren Spielern gleichzeitig umgesetzt. Eine langfristige Perspektive besteht im mehrstimmigen Ausbau der Arrangements.
  2. Die Einbettung des Workshops in den Alltag der Schule.
    Nach vier Jahren Laufzeit und interner Weiterentwicklung des Formates ist eine von der Schule unterstützte und mitgetragene Infrastruktur um den Geigenraum entstanden, die wesentlich zum Gelingen des Projektes beiträgt. Entscheidend ist dabei die Arbeit von Johannes Krause, der Lehrer an der Schule Kunterbunt ist und dort seit Jahren eine „Carte Blanche“ zur Verwirklichung musikalischer Arbeit mit den Kindern der Schule bekommt.
    Er bietet „Musikpausen“ an, die es den Kindern ermöglichen, während der längeren Schulpausen, in Einzelfällen auch während der Unterrichtszeit in den Musikraum zu kommen und dort zu musizieren. In dieser Zeit können unterschiedliche Arten von Beschäftigung mit Klang, mit Instrumenten und mit Musik insgesamt stattfinden. Johannes bewegt sich dabei als Coach und Mit-Musiker durch die oft große Anzahl von Kindern, unterstützt sie beim Ausbau ihrer musikalischen Fähigkeiten und bringt ihnen raffinierte Arrangements geschickt gewählter, bekannter Melodien auf gemischtem Instrumentarium bei. Die Ergebnisse werden regelmäßig bei Festen oder Schulkonzerten vorgestellt. Durch Johannes’ Arbeit ist somit bereits ein „musikalisches Klima“ im Schulalltag etabliert, das einen idealen Hintergrund für speziellere Angebote wie den Geigenraum bereitet. Johannes ist erfahrener Gitarrist und Rockmusiker und kann den Kindern nach unserer langjährigen Zusammenarbeit die Grundlagen des Geigenspiels selber vermitteln, was den Vorteil hat, dass wir neue Teilnehmer immer zu zweit betreuen können.

 

Zeitliche und räumliche Bedingungen / Teilnehmerstruktur

Der Workshop findet im Musikraum der Schule statt, der mit zwei Klavieren, einer Vielzahl von Keyboards mit Kopfhörern, allerlei Zupf- und Schlaginstrumenten sowie einer Bühne ausgestattet ist. Der Raum ist groß und hat eine hohe Decke, was die Verteilung der darin Agierenden auf mehrere Stationen, die mit unterschiedlichen inhaltlichen Funktionen verbunden sind, begünstigt.

Die teilnehmenden Kinder kommen in drei Gruppen hintereinander für jeweils ca. 30 Minuten. Die genaue Einteilung hängt nicht zuletzt von äußeren Faktoren wie Abhol- und Busabfahrtszeiten ab. Das bedeutet, dass manchen Kindern eine Teilnahmedauer von bis zu 60 Minuten möglich ist, während andere unter Umständen wesentlich kürzer dabei sein können. Trotzdem ergibt sich, vereinfacht dargestellt, folgende auf den instrumentalen und musikalischen Fortschritt der Kinder bezogene Gruppeneinteilung:

 

11.00 bis 11.30 Uhr

Gruppe 1: Kinder, die neu anfangen, das Angebot entdecken, sich am Instrument ausprobieren. Im Laufe einiger Wochen wird entschieden, ob sie regelmäßig teilnehmen.

11.30 bis 12.00 Uhr

Gruppe 2: Kinder, die seit mindestens einem halben Jahr dabei sind und schon begonnen haben, an Vortragsstücken zu arbeiten.

12.00 bis 12.30

Gruppe 3: Kinder, die schon seit mehr als einem Schuljahr dabei sind, regelmäßig kommen und schon routinierter mit dem Instrument umgehen. Sie können verschiedene Stücke alleine oder in der Gruppe spielen.

13.00 bis 13.30 Uhr

Einzelunterricht

Wie erwähnt, wird uns seit Sommer 2018 ermöglicht, für 3 Teilnehmer Einzelunterricht von jeweils 15 Minuten an den Gruppenworkshop anzubinden. Die Kinder werden von Johannes Krause und mir dafür ausgesucht.

Innerhalb der ersten drei Gruppen sind unterschiedliche Formen und Intensitäten von musikalisch-instrumentaler Beschäftigung rund um das Instrument Violine denkbar. Um dies zu verdeutlichen, sei die Spannbreite von möglicher Intensität der Beschäftigung anhand von zwei Beispielen aufgezeigt:

Szenario 1: Das Kind kommt regelmäßig für 20 bis 30 Minuten, nimmt kurz Hilfestellung von uns in Anspruch, zieht sich dann zurück, spielt ab und zu auf den leeren Saiten, hört und sieht anderen beim Musizieren zu oder setzt sich an ein Keyboard und spielt mit aufgezogenen Kopfhörern. Das Angebot, etwas Neues auf der Geige zu lernen, lehnt es meist ab.

Szenario 2: Das Kind kommt regelmäßig und bleibt zwischen 30 und 60 Minuten. Es fragt regelmäßig aus eigenem Antrieb, ob es etwas Neues lernen kann. Innerhalb eines halben Jahres erschließt es sich die Anwendung der ersten Griffart auf allen vier Saiten in Verbindung mit unterschiedlichen Bogeneinteilungen und lernt, Stücke nach Noten zu spielen.

Beide Arten von Teilnahme sind im Geigenraum möglich, und auch die eher oberflächliche Beschäftigung ohne viel spürbaren Fortschritt wird geduldet, solange nicht gestört oder abgelenkt wird. Diese „erwartungslose“, von Druck befreite Haltung hat manchmal bewirkt, dass Kinder nach längerer Zeit eher passiven Teilnehmens zu unserer Überraschung doch noch Lust bekamen, in die Spielpraxis einzusteigen.

Die einzige verbindliche Verabredung, die vorab kommuniziert wird, betrifft das prinzipielle Interesse am Instrument und an der im Raum erklingenden Musik, sowie die Bereitschaft, an einer Situation mitzuwirken, die vielen Kindern gleichzeitig eine individuelle Beschäftigung mit den im Mittelpunkt stehenden musikalischen Inhalten ermöglicht.

 Methoden / Formen der Vermittlung

 Zusammengefasst, spielen sich folgende Situationen Woche für Woche im Geigenraum ab:

  • Mini-Unterrichtseinheiten zwischen 2 und 10 Minuten, die für 1 - 3 Teilnehmer mit Klavier- oder Gitarrenbegleitung gestaltet werden.
  • Kleine Gruppen, die etwas bereits Bekanntes auf Wunsch oder Vorschlag hin mit uns gemeinsam musizieren.
  • Technikrunden im Sitzkreis: Bei Gelegenheit, besonders wenn viele „Neue“ da sind, wird für alle Anwesenden für etwa 4 - 5 Minuten eine bestimmte technische Übung erklärt, demonstriert und mit individueller Hilfestellung durchgeführt.
  • Kleine Vorspielrunden: Nach einem Zeitabschnitt wird jeder Teilnehmer gebeten, kurz für alle zu zeigen, womit er in dieser Zeit beschäftigt war.
  • Notenschreib-Sequenzen: Kinder fertigen selbst kurze Notationen an, oft mit ihren aktuellen Geigenübungen verbunden oder um Passagen in den Vortragsstücken zu erklären.
  • Performances: Alle Anwesenden hören einer Solo- oder Gruppendarbietung zu.
  • Kreativ pausieren: Kinder beschäftigen sich alleine mit dem Instrument, spielen mit Kopfhörern an einem der Keyboards oder pausieren und hören anderen zu.

 Das gegenseitige Vorspielen von Musik ist ein Grundelement im Ablauf jedes Geigenraum-Vormittags. Es ist gewissermaßen der Motor, der die musikalische Werkstatt in Gang hält, denn hier entsteht die oben erwähnte Sogwirkung: Kinder hören, wie andere Kinder etwas spielen, das sie als schön empfinden, und äußern den Wunsch, es auch lernen zu können.

 Die gleichzeitige Anwesenheit von Kindern, die unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeiten haben, ermöglicht es, Kindern Coaching-Aufgaben zu übertragen.

Beispiel: Ein Kind hat gerade mit mir am Klavier ein Stück musiziert, während einige andere zugehört haben. Gleich nach dem Vortrag äußern die Zuhörer, dass sie „das auch gerne können wollen“. Also bitte ich das Kind, den Anderen zu zeigen, wie das geht.

Natürlich ist in dieser Situation nicht von vornherein klar, wie effektiv die Vermittlung von technisch-musikalischen Inhalten von Kind zu Kind ausfallen wird. Der Vorteil ist, dass sich daran leicht zeigt, woran gearbeitet werden muss. Diejenigen, die etwas erlernen wollen, merken beim Coaching ihrer Mitschüler, dass sie an bestimmten Punkten nicht weiterkommen, da ihnen noch Zwischenschritte fehlen. An dieser Stelle kann ich mich einschalten und Unterstützung anbieten. Außerdem gehört die Idee, dass sich die Kinder auch ohne uns Leiter auf ihre Art mit der Sache beschäftigen, zu den konzeptuellen Leitlinien des Geigenraums.

 Ergebnisse

Jede Woche erreicht der Geigenraum bis zu 20 Kinder, die Gelegenheit dazu bekommen, Zeit in musischer Atmosphäre zu verbringen und sich den eigenen Wünschen und Fähigkeiten entsprechend einzubringen und auszubilden.

Innerhalb der letzten zwei Jahre hat der Geigenraum mindestens sechs Kinder hervorgebracht, die einen im technisch-musikalischen Sinne vergleichbaren Stand von leicht fortgeschrittenen Absolventen im Einzelunterricht nach ca. 1 ½ bis 2 Jahren erreicht haben. Zusätzlich konnten sie wie beschrieben Ensemble-Erfahrungen sammeln. Einige dieser Kinder haben ihre Begeisterung ihren Eltern vermittelt und sie dazu animiert, ein eigenes Instrument anzuschaffen, das sie regelmäßig in die Schule mitbringen, um auf der eigenen Geige weiter lernen zu können.

 

 

veröffentlicht von: Offene Jazz Haus Schule, Rainer Linke

©2019: Offene Jazz Haus Schule, Axel Lindner

Lektorat: radiX editorial köln

Fußnoten:

1 „KlangKörper“ bringt Musik und Tanz, Klang und Körper, Rhythmus und Bewegung sowie Elemente nachhaltiger kultureller Schulentwicklung in enger Verbindung in die Grundschule. Konzipiert von dem Musiker und Musikervermittler Thomas Gläßer und der Tänzerin und Choreographin Benedetta Reuter in Zusammenarbeit mit einem Pool von engagierten und profilierten Musiker*innen und Tänzer*innen, wurde das Projekt in Trägerschaft der Offenen Jazz Haus Schule 2012 in Zusammenarbeit mit dem nrw landesbuero tanz auf den Weg gebracht. Neben dem zentralen Schulstandort Schule Kunterbunt / GGS Görlinger Zentrum in Köln-Vogelsang werden seit 2012 auch Satellitenprojekte an diversen Kölner Grundschulen, u.a. in Köln-Mülheim, Köln-Ostheim und in der Kölner Südstadt realisiert.

Gefördert von:

AK Kultur und Wissenschaft klein