E-Gitarren-Alarm! Vom Blues zum Jazz und weiter...
Ausschnitt aus dem Workshop-Bericht
Tobias Hoffmann
Der beschriebene Workshop von Tobias Hoffmann wurde im Jahresprogramm und auf der Homepage der Offenen Jazz Haus Schule ausgeschrieben wie folgt.
„E-Gitarren-Alarm! Vom Blues zum Jazz und weiter…“
Die elektrische Gitarre ist noch keine hundert Jahre alt und gehört trotzdem zu den prägendsten Instrumenten der Populären Musik. Blues, Jazz, Rock: In all diesen Stilen
ist sie prominent vertreten und trägt wie kein anderes Instrument zum Klang dieser Musikstile bei. Dabei sind die Überschneidungen dieser Genres sehr groß, die Grenzen fließend.
In diesem Workshop geht es darum, diese Überschneidungen zu suchen, die Grenzen auszuloten und zu überschreiten. Ausgehend von der klassischen Bluesgitarre gehen wir Wege in Richtung Jazz, Rock, freie Improvisation & Sounds.
Dabei geht es im Einzelnen um Skalen, Akkorde und Songformen, aber auch um Sound, Ton und Experimente. Wir spielen einige ausgewählte Kompositionen und gehen deren Geheimnissen gemeinsam spielend und improvisierend auf den Grund. Zudem schenken wir den modernen Helden der Blues-Gitarre im weitesten Sinne (von Eric Clapton über Robben Ford zu John Scofield und Bill Frisell) unser Ohr.
Zum Abschluss dieses Workshops wird es eine konzertante Präsentation geben. Der Workshop richtet sich an alle E-Gitarristen mit soliden Fähigkeiten rund um die Bluesgitarre. Außerdem sollte man schon erste Erfahrungen mit Improvisation gemacht haben.
Sa 24./ So 25.Mai
11.00 - 17.00 Uhr
Gebühr 110 Euro
Ermäßigt 100 Euro
Einleitung
Aus meiner langjährigen Erfahrung als Gitarrist, Gitarrenlehrer & Gitarrenfan weiß ich, dass vor allem der Grenzbereich von Blues, Jazz und Rock zu den Dauerthemen unter Gitarrenschülern und Hobbygitarristen gehört. Zum einen, weil die Musik in diesem Grenzbereich bei Gitarristen sehr populär ist, und zum anderen, weil diese Gitarristen oft daran interessiert sind, ihr Vokabular von den Blues-Basics auf andere Bereiche zu erweitern.
Zu den großen Protagonisten dieses Genres gehören unter anderen John Scofield, Bill Frisell, Robben Ford, Scott Henderson, Michael Landau, Marc Ribot, Larry Carlton oder Eric Johnson. Jeder der hier genannten Künstler beleuchtet das Feld zwischen den genannten Genres auf seine ganz eigene Art und Weise. Ihre Musik ist in Europa regelmäßig in Konzerten zu bewundern, bei denen sich das Publikum zum großen Teil aus zahlreichen Gitarristen und Gitarrenfans zusammen setzt, die natürlich zu Hause am eigenen Instrument ihren Idolen nacheifern wollen.
„Aber was machen die eigentlich da?“
Einige Bemerkungen zur Sozialisation des E-Gitarristen:
Ich glaube, dass die Entwicklung bei ca. 90% aller Gitarristen gleich abläuft. Die Gitarre ist ein Instrument, bei dem man auch mit einfachsten Mitteln schon ein recht zufrieden stellendes musikalisches Ergebnis erreichen kann. (Im Gegensatz zu anderen Instrumenten wie beispielsweise Geige oder Saxophon, wo man verhältnismäßig lange braucht, um erstmal nur einen schönen, sauberen Ton zu erzeugen). So kann man auf der Gitarre schon mit der Kenntnis von 3 bis 4 Akkorden („Griffen“) und 2 bis 3 rhythmischen Anschlagsmustern sehr viele Lieder simpel, aber wirkungsvoll begleiten.
Das Erlernen des Melodiespiels, das meist später stattfindet, folgt einem ähnlichen Prinzip. Hier wird in der Regel direkt mit Improvisationen angefangen. Die Pentatonik1 bietet eine einfache Möglichkeit, recht schnell das erste eigene „Solo“ zu spielen, wobei keinerlei Noten- oder Theoriekenntnisse nötig sind. Der Gitarren-Einsteiger merkt sich einfach das Griffbild der Skala, was auf der Gitarre einfach ist. So umfasst die Grundstellung der Pentatonik mit dem Grundton auf der tiefen E-Saite sehr überschaubar immer zwei Töne auf jeder Saite, wobei der tiefere davon immer im gleichen Bund bleibt und man sich im Prinzip nur den „Abstand“ zum zweiten Ton auf der jeweiligen Saite merken muss. Dies wird gut sichtbar in einem Abbild des Gitarrengriffbretts:
Anmerkung: 1 Wörtlich „Fünf-Ton-Musik“. Bezeichnung von Tonleitern, die aus fünf Tönen bestehen und aufgrund ihrer Begrenztheit einfaches Material zum Improvisieren bieten.
Achtung: Die kleine Septime wird in Akkordsymbolen nur mit "7" und nicht mit "b7" gekennzeichnet.
Um Verwirrung zu vermeiden ist mit "7" also im Folgenden immer die kleine Septime gemeint.
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Von da an lernt der „Durchschnittsgitarrist“ einige weitere Akkorde, die gängigen sogenannten offenen Akkorde (Akkorde mit Leersaiten1), Barré-Akkorde2, Powerchords3 etc., aber vor allem spielt er gerne „Solo“. Die Fähigkeiten zur Improvisation mit der Pentantonik werden rasch ausgebaut. Bendings4 und andere Techniken werden eingesetzt, die ersten einfachen Licks5 der großen Vorbilder nachgespielt. Und das alles, ohne eigentlich zu wissen, was man musiktheoretisch genau macht!
Dieser Werdegang ist oft unabhängig davon, ob der Schüler autodidaktisch oder mit einem Lehrer lernt. Auch ich gehe mit vielen meiner Schüler diesen Weg, weil er sehr schnell die Freude am Instrument und an der Musik weckt, weil er oft genauso gewünscht wird oder weil sie diesen Weg bereits vor dem Unterricht bei mir eingeschlagen haben.
Anmerkungen
1 Saiten in ungegriffenem, also frei schwingendem Zustand.
2 Quergriff, mit dessen Hilfe mehrere Saiten gleichzeitig gedrückt werden, in der Wirkung einem Kapodaster vergleichbar.
3 Vor allem in Rock/Metal verbreiteter Akkordtypus, der nur aus Grundton und Quinte besteht.
4 Technik, durch Ziehen oder Drücken der Saite den Ton zu manipulieren.
5 Kurzes, oft individuell-typisches Melodiefragment.
Zum Jazz und weiter
Inspiriert durch das reichhaltige Werk der Gitarrenhelden der verschiedenen Epochen, gibt es für den Gitarrenbegeisterten viel zu entdecken, und häufig kommt er irgendwann an den Punkt, wo es doch auch mal etwas „jazzig“ werden soll. Man möchte in die Welt des Jazz eintauchen, die gut ausgestattet ist mit Lehrbüchern, Workshops und Arbeitsmaterialien.
Hier wird jedoch alles ziemlich kompliziert.
In vielen Lehrbüchern geht es hauptsächlich um komplexe harmonische Abläufe und eine Menge Skalentheorie; viele Beispiele sind ausschließlich in normaler Notenschrift notiert und nicht als Tabulatur. Da steigen einige unserer ambitionierten Gitarristen schon aus, weil man sich bisher mit Theorie und Notenlesen nie ernsthaft auseinander setzen musste oder wollte. Es ging ja bisher auch so alles sehr gut. Und selbst wenn man sich die überall gepriesene, allheilbringende alterierte Skala1 angeeignet hat, will es doch nicht so recht gelingen mit der gewünschten „Jazzigkeit“.
Ausgehend von der Erfahrung, dass diese gewünschte „Jazzigkeit“ auf mehr beruht als auf Skalen, habe ich ein Workshopkonzept entworfen, welches die Gitarristen jeweils dort abholen soll, wo sie individuell gerade stehen.
Dies soll bitte nicht falsch verstanden werden. Musiktheoretisches Wissen, Skalen, harmonische Zusammenhänge zu analysieren und zu verstehen und Spielen vom Blatt sind für jeden Musiker, der sich ernsthaft mit Jazzmusik beschäftigen möchte, überaus wichtig. Je mehr man eine Sprache versteht, desto besser kann man sie nachher sprechen.
Bei meinem Workshop geht es aber darum, erst einmal einen Fuß in die Tür zu bekommen. Es geht darum, den Teilnehmern verschiedene einfache Wege zu zeigen, wie sie ihr Basic Bluesgitarrenspiel ein bißchen auffrischen können. Es geht darum, klar zu machen, dass vieles gar nicht so kompliziert ist, wie es auf den ersten Blick oder das erste Hören erscheint. Und nicht zuletzt darum, den Gitarristen die Angst zu nehmen vor Musiktheorie, vor der analytischen Seite des „Jazz“. Nicht selten hört man Sätze wie „Das ist mir zu kompliziert, das trau ich mir nicht zu“, oder „Diese Musik verstehe ich nicht.“
Außerdem geht es auch darum, über den Tellerrand hinaus zu schauen und selber kreativ zu werden.
Anmerkung: 1 Komplexe, als jazz-typisch geltende Tonleiter.
Der Workshop
Es gab 8 teilnehmende Gitarristen zwischen 18 und 60 Jahren (wobei interessanterweise die „Mittfünfziger“ in der Mehrheit waren). Der Workshop ging über zwei Tage, jeweils von 11 bis 17 Uhr mit einer einstündigen Mittagspause von 12.30 bis 13.30 Uhr.
Ich habe jeden dieser vier Blöcke noch einmal in zwei Themengebiete unterteilt, wobei ich mich nicht hundertprozentig an diesen Ablauf gehalten habe, um flexibel auf die allgemeine Stimmung, Anregungen und Fragen der Teilnehmer reagieren zu können. Wenn man improvisiert, weiß man nicht immer, wie lang es genau dauern wird.
Eine Abschlusspräsentation haben wir auf Wunsch der Teilnehmer nicht durchgeführt, was für mich in Ordnung war, denn es gab genug Themen und Fragen zu bearbeiten. Unsere Spielsituation, bei der oft zwei oder drei zusammen gespielt haben, während die anderen zuhörten, war in diesem Sinne auch schon fast konzertant.
Viele Themen wurden natürlich in der Kürze der Zeit nur angeschnitten. Jedem Kapitel meines Workshops könnte man einen eigenen Workshop, ja ein eigenes Buch widmen. Mir war wichtig, den Teilnehmern etwas anzubieten, was sie zu Hause weiter ausbauen können, womit sie anfangen können, selber zu forschen und zu experimentieren.
Im Mittelpunkt des Workshops stand das Solospiel, da es die Gitarristen am meistens fasziniert und interessiert. Aber mir war wichtig, den Teilnehmern auch auf den Gebieten Harmonie, Rhythmus und Ausdruck Anregungen zu geben.
Block 1: Melodien - Pentatonik-Erweiterung
Der erste Teil unseres Workshop beschäftigte sich mit dem Melodie- bzw. Solo-Spiel. Hier schlug ich als Ausgangspunkt eine Skala vor, die jedem Gitarristen geläufig ist: Die Moll-Pentatonik. Als Tonart haben wir das für Gitarre komfortable A-Moll gewählt.
Nachdem wir einen kleinen einleitenden Jam1 mit den Tönen der A-Moll Pentatonik
machten, wo sich jeder ein bißchen warmspielen und austoben konnte, habe ich den
Teilnehmern meine Idee präsentiert. Ausgehend von der normalen 5-tönigen Moll-Pentatonik, haben wir diese wahlweise um einen sechsten Zusatzton erweitert. Fast jedem Gitarristen ist dieses Prinzip bekannt, denn fügt man der Moll-Pentatonik als sechsten Ton die verminderte Quinte hinzu, resultiert daraus die Tonleiter, die uns allgemein unter dem Namen Bluestonleiter bekannt ist
Anmerkung 1: Gemeinsame Improvisation, i. d. R. nach bestimmten Vorgaben.
Nach dem gleichen Prinzip haben wir aber auch jeden anderen Ton der chromatischen Tonleiter als Zusatzton zu unserer Pentatonik „getestet“. Einerseits, um die Wirkung dieser Intervalle zu spüren, andererseits, um das eigene tonale Vokabular zu bereichern und so die Möglichkeiten der Improvisation zu erweitern.
Ausgehend von den gegebenen fünf Tönen der pentatonischen Tonleiter, verbleiben von den 12 Tönen der chromatischen Tonleiter noch 7 Töne zur Erweiterung.
Diese Intervalle sind:
- kleine Sekunde oder kleine None (geschrieben b9),
- große Sekunde oder None (geschrieben 9),
- große Terz (Dur-Terz),
- verminderte Quinte (geschrieben b5 oder #11),
- übermäßige Quinte oder kleine Sexte (geschrieben #5 oder b13),
- große Sexte (geschrieben 6 oder 13),
- große Septime (geschrieben maj7).
Grundsätzlich kann man jeden Ton der chromatischen Tonleiter verwenden, wobei die Wirkung, ob ein Ton als dissonant oder konsonant empfunden wird, auf den jeweiligen Zusammenhang zurückzuführen ist. Um uns das Leben nicht zu schwer zu machen, haben wir mit den Zusatztönen begonnen, die in unserem Blues/Jazz-Kontext am ehesten als konsonant empfunden werden und somit leichter in die Improvisation mit der Pentatonik einzubauen sind.
Hier zusammenfassend meine Reihenfolge von konsonant zu dissonant, also von „leicht einzubauen“ bis zu „problematisch, diesen Ton hier zum Klingen zu bringen“ sowie eine kurze Bemerkung dazu:
Verminderte Quinte (ausgeschrieben b5 oder #11) - Bluestonleiter (s. o.)
Große Septime (maj7) - häufig eingebauter chromatischer Zwischenton zum Grundton hin
Große Terz (Durterz) - typisches Bluesklischee, um zwischen Dur- und Moll-Terz zu wechseln.
Große Sexte (6 oder 13) - Assoziation „funky“, kommt auch in den häufig benutzten Skalen Dorisch und Mixolydisch vor.
Große Sekunde oder None (9) - kann sowohl sehr „jazzig“ klingen als auch im Moll-Kontext als „traurig“ wahrgenommen werden. Für mein Empfinden „süßlich“.
Kleine Sekunde oder kleine None (b9) - kann einen sehr bluesigen Charakter haben, bei häufiger Verwendung klingt das Resultat schnell „orientalisch“.
Übermäßige Quinte oder kleine Sexte (#5 oder b13) - sehr schwierig in unseren Blues/Jazz-Kontext einzubauen, wenn man sie nicht nur als chromatischen Zwischenton von der Quinte zur Sexte einsetzt. Assoziation: „traurig, tragisch“.
Hat man das Prinzip ein bisschen verinnerlicht, kann man natürlich in der Folge dazu übergehen, der Pentatonik mehr als nur einen Ton hinzuzufügen…
Auf diese Weise kann sich der Spieler den gesamten chromatischen Raum spielerisch erschließen. Er lernt mit der Moll-Pentatonik als Ausgangspunkt (Intervallstruktur: 1- b3-4-5-b7) die Position aller Intervalle vom tiefen Grundton auf der E-Saite aus gesehen.
Im Grunde ist er nun in der Lage, jede existierende Tonleiter zu spielen. Das ist natürlich erstmal leichter gesagt als getan, jedoch versuche ich meine Schüler immer mit diesem Ansatz zu motivieren und ihnen klar zu machen, dass nicht jede Tonleiter „neu“ ist, sondern immer nur ein bisschen anders zusammengesetzt. Die induktive Herangehensweise an das improvisatorische Material nimmt die Angst vor der Fülle theoretischer Herausforderungen und ermöglicht dem ambitionierten Gitarristen Schritt für Schritt und bei gleichbleibender Freude am Spiel die angestrebte Erweiterung seiner instrumentalen und improvisatorischen Möglichkeiten.