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Inklusive Orchester
Wann und in welcher Hinsicht kann ein Orchester sinnvollerweise »inklusiv« genannt werden?

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Seit 2013 kommt im Kölner Stadtteil Buchheim an jedem Montag das »Inklusive Stadtteil-Orchester« zusammen. Das von der Offenen Jazz Haus Schule in Kooperation mit mehreren lokalen Einrichtungen konzipierte Projekt ist eine Fortsetzung der langjährigen kulturpädagogischen und soziokulturellen Arbeit in diesem Stadtteil und somit ein Modell, das unter ganz spezifischen Bedingungen möglich wurde. Dieses nach der Selbstbeschreibung »inklusive« Orchester soll im folgenden kurz vorgestellt werden, um an diesem Beispiel allgemeine Kennzeichen inklusiver Arbeit mit großen Ensembles zu diskutieren.

1. Das Beispiel "Das inklusive Stadtteilorchester" im Rahmen von Sounds of Buchheim

Die 20 bis 35 Personen, die jede Woche von drei bis vier DozentInnen in einem mittelgroßen Gemeindesaal begrüßt und zum gemeinsamen Musizieren eingeladen werden, sind überwiegend zwischen sechs und sechzig Jahren alt und unterscheiden sich extrem hinsichtlich ihrer instrumentalen Vorkenntnisse. Viele der Teilnehmenden haben keinerlei instrumentale Vorerfahrung, andere greifen gezielt zu Instrumenten, mit denen sie nicht schon in anderen Kontexten konfrontiert werden, wiederum andere zeigen schon erhebliche Fertigkeiten, die sie nicht selten über die jahrelange Teilnahme an offenen kulturpädagogischen Angeboten im Rahmen von "Sounds of Buchheim"1 erworben haben. Was die Teilnahmemodalität betrifft, gibt es regelmäßige, episodische, sporadische und punktuelle Varianten. In den meisten Orchesterproben tauchen auch ganz neue Teilnehmende auf. Das verwendete Instrumentarium gibt einen Hinweis darauf, dass der Begriff »Orchester« eine falsche Vorstellung davon vermitteln könnte, was musikalisch tatsächlich vor sich geht. Typischerweise sind folgende Instrumente in Verwendung, wobei zu einem gewissen Teil zwischen den Instrumenten gewechselt wird:

1-2 Drumsets

4-7 Congas

1-2 E-Bässe

4-8 E-Gitarren

3-5 Akustische Gitarren

1 Flügel

1-2 Keyboards

2-5 Violinen

1-2 Celli

2 Flöten

1 Saxophon

1 Posaune

2-3 Gesangsmikrophone

Bei den zahlreichen Auftritten in und außerhalb des Stadtteils sind von diesem eigenartigen Orchester eigene Songs und strukturierte sowie dirigierte2 Improvisationen zu hören. Es ist dabei ein gewisses Repertoire aus Songs entstanden, an denen das Orchester festhält. Neue Songs und Ideen überwiegen aber. Die Stücke entstehen meistens während der Orchesterproben, wobei die Teilnehmenden zunehmend mit schon vorbereiteten Texten und immer öfter auch mit musikalischen Ideen zu den Proben erscheinen.

2. Was ist »inklusiv« an diesem Orchester?

Über Inklusion kann und muss man auf verschiedenen Ebenen sprechen.

Die Begriffsdefinition "Inklusion im Sinne uneingeschränkter gesellschaftlicher Teilhabe und Selbstbestimmung aller Menschen" (Dannenbeck 2012, 108) ruft unmittelbar die makrosoziologische Ebene auf und fragt nach den Strukturen einer Gesellschaft, in der das Leben in diesem Sinne möglich wäre. Zu verkennen, dass wir in dieser Gesellschaft nicht leben, wäre nicht nur naiv, sondern irreführend.

Inklusion wird aber vorherrschend als organisationales Problem behandelt. Sowohl in Kontexten der Sozialen Arbeit als auch im Bezug auf Schule geht es bei Inklusion ganz zentral darum, wer wie unter welchen Bedingungen inkludiert wird (d. h. an Angeboten teilnehmen kann, in eine Schule aufgenommen wird…) bzw. Ansprüche auf Leistungen der Hilfesysteme geltend machen kann.

Schließlich kann man sich die konkrete Ebene der Interaktion anschauen. Wie interagieren und kommunizieren Anwesende miteinander? Dies ist eine originär pädagogische Frage nach Inklusion, die gleichzeitig auf die beiden anderen Ebenen verweist: Inklusiv kommunizieren mit organisational Ausgeschlossenen ist ebenso wenig möglich, wie es sinnvoll ist, inklusive Praxis zu propagieren, ohne die gesellschaftlichen Kontexte dieser Praxis zu thematisieren (und verändern zu wollen).

3. Organisatorische Bedingungen inklusiver Praxis

Beim »Inklusiven Stadtteil-Orchester« steht also die konkrete Praxis im Mittelpunkt, die gleichzeitig in organisationalen und gesellschaftlichen Zusammenhängen steht.

Was die Ebene der Organisation betrifft, ist – im Gegensatz zur pädagogischen Ebene – recht klar zu beantworten, was »inklusiv« bedeutet. Das Orchester ist nicht als eigene Organisation zu beschreiben, sondern vielmehr als eine „organisierte Gruppe“ (Neidhardt 1979, 643) innerhalb einer non-formalen Organisation der kulturellen Bildung (Offene Jazz Haus Schule). Diese Organisation kann den Zugang und die Teilnahme an der Gruppe mehr oder aber weniger inklusiv gestalten. Die Organisation kann hierbei verschiedene Formen von Barrieren3 errichten. Der Zugang kann zielgruppenspezifisch reguliert werden, es können Entgelte erhoben werden, es können Voraussetzungen der Teilnahme benannt werden, es können Teilnahmemodalitäten (Verbindlichkeit) vorgegeben werden. Keine dieser »Möglichkeiten« wird in diesem Falle realisiert:

  • man kann nicht zu alt oder zu jung sein,
  • man kann nicht zu krank4 sein ,
  • man kann nicht zu arm oder zu wohlhabend5 sein,
  • man kann nicht zu wenig oder zu viele instrumentale oder musikalische Vorkenntnisse haben
  • man kann nicht zu wenig »Selbstmanagement-Kompetenzen« haben. Zu spät oder unregelmäßig teilzunehmen ist kein Problem.

Auf organisationaler Ebene stellen sich noch einige weitere Fragen, z. B. nach der informationellen und infrastrukturellen Erreichbarkeit des »Angebots«, die allerdings auch im Projekt beantwortet werden. Im Ganzen kann man auf dieser Ebene also davon sprechen, dass konsequent an organisationaler Inklusion gearbeitet wird.

4. Ein inklusives Orchester »gibt« es nicht

Die große Herausforderung, für die die organisatorische Ebene nur die Voraussetzungen schafft, ist die Inklusion auf der Ebene von Interaktion und Kommunikation. Ohne explizite organisatorische Barrieren gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten, durch eigenes (didaktisches) Handeln, durch Methoden, durch Material und durch die Art der Kommunikation Barrieren ins Spiel zu bringen, die weniger sichtbar und für die Beteiligten individuell verschieden »hoch« sind. Die Dimensionen, in denen Barrieren auftreten bzw. ins Spiel gebracht werden können, können hier nicht systematisch erarbeitet werden (vgl. Krönig 2015). Als zentrale Bereiche sollen im folgenden daher exemplarisch zwei didaktische Spannungsfelder abgesteckt werden, die eines deutlich machen: »Inklusion« nimmt in diesen Spannungsfeldern nicht die Gestalt von »Antworten« an, sondern die von Fragen, Ambivalenzen und prekären Positionierungen.

 1. Die Hochschwelligkeit von Kunst6 und die Niedrigschwelligkeit inklusiver Pädagogik

 2. Die Notwendigkeit von Steuerung in der Großgruppe und die Forderung nach demokratischer Selbstorganisation und hierarchiefreier Kommunikation

Ob, bzw. zu welchem Grad, ein Orchester sinnvollerweise als inklusiv bezeichnet werden kann, hängt entscheidend davon ab, wie die vorstehend bezeichneten Probleme erkannt, reflektiert und gemeinsam bearbeitet werden. Von einer Problem-„Lösung“ kann nämlich keine Rede sein, da die Auseinandersetzung und Positionierung ja genau das didaktische Handeln selbst ausmachen. Das heißt: man kann nicht die aufgeworfenen Fragen beantworten und dann auf der Basis einer Gewissheit, einer Methode, einer Didaktik handeln. Vielmehr kann von einer inklusiven Didaktik oder einem inklusiven Ansatz nur dann gesprochen werden, wenn man sich auf hohem Niveau intensiv und nachhaltig mit den Fragen auseinandersetzt und sich nicht mit den erstbesten Antworten zufrieden gibt.

Ein inklusives Orchester sucht gemeinsam nach künstlerischem Ausdruck und ästhetischen Momenten, die mit den konkret anwesenden Personen möglich sind. In der Regel ist das harte Arbeit und erfordert ein hohes Maß an künstlerischen Fähigkeiten mancher Teilnehmenden. Es müssen beispielsweise Personen anwesend sein, die ad hoc Arrangementideen entwickeln und vorschlagen können, die für alle Teilnehmenden spielbar und spielenswert sind (vgl. Krönig 2013, 92-107) und musikalisch Sinn ergeben. Die technisch begrenzten Möglichkeiten derer, die hier zum ersten Mal ein Instrument in Händen halten, ins Spiel zu integrieren, ist und bleibt eine ständige Herausforderung. Wenn ein Kind keinen sinnvollen Part hat, keine eigenen Ideen entwickelt oder immer nur das Gleiche spielt, wird das von einem inklusiven Orchester nicht als Problem des betreffenden Kindes gesehen ("zu unbegabt", "übt zu wenig“…). Man wird im Gegenteil etwas Passendes für das Kind bzw. mit dem Kind entwickeln, oder aber alles Übrige um das herum gestalten, was dieses Kind machen kann und möchte. Was hier wie eine Lösung klingt, bleibt aber in der konkreten Praxis ambivalent. Soll ich dem betreffenden Kind einen neuen Part anbieten oder es so lange alleine lassen, bis es selbst etwas entwickelt? Wie weit will ich mich mit „Arrangement-Künsten" einbringen, die auch einschränken können, und damit riskieren, die anderen zu bloß Ausführenden meiner Ideen zu machen?

Das leitet unmittelbar zur zweiten Frage über, nämlich der nach hierarchiefreier, demokratischer Kommunikation und Steuerung. In diesem Bereich gibt es noch gar keine etablierten Konzepte. Ist die Dirigentenrolle in einem Großensemble verzichtbar? Genügt es, die Dirigentenrolle rotieren zu lassen, um von einer Demokratisierung sprechen zu können? Wie ist es zu bewerten, wenn die Teilnehmenden sich eine leitende Person ausdrücklich wünschen? Ist es ein gangbarer Weg, eine Leitungsrolle langsam zurückzufahren? Wie begegnen wir der Gefahr der Alibi-Partizipation (vgl. Hart 1992), bei der beispielsweise Kinder eine vorgesehene »Leitungsrolle« einnehmen, die letztlich aber von oben herab zugewiesen und nach Plan auszuführen ist?

Von einem inklusiven Orchester ist zu erwarten, dass diese und ähnliche Fragen gemeinsam diskutiert werden, dass mit Ansätzen in diesem Bereich experimentiert wird und dass ein »Funktionieren« oder »Gelingen« unter Umständen nicht genügt. Für das inklusive Stadtteilorchester des Projekts »Sounds of Buchheim« spricht, dass diese Fragen immer im Spiel bleiben und eine grundsätzlich suchende Haltung fortbesteht, obwohl das Orchester in vielfacher Hinsicht »erfolgreich« ist und von dem oft so bezeichneten »Leidensdruck« bei der Arbeit mit heterogenen Gruppen tatsächlich keine Rede sein kann.

Literaturverzeichnis:

Dannenbeck, Clemens. 2012. "Inklusion reflexiv – ein Immunisierungsversuch gegen politische Umarmungsstrategien." In Inklusiv gleich gerecht? Inklusion und Bildungsgerechtigkeit, edited by Simone Seitz, 107-114. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Hart, Roger. 1992. Children's Participation. From Tokenism to Citizenship. Innocenti Essays 4.

Krönig, Franz Kasper. 2013. Populäre Musik in der kulturellen Bildung Gedanken, Wege und Projekte zu einer inklusiven Musikpädagogik und didaktischer Öffnung. Edited by Johannes Bilstein. 1. Aufl. ed, Pädagogik: Perspektiven und Theorien. Oberhausen: Athena.

Krönig, Franz Kasper. 2015. "Barrieren zwischen Freiheit und Faktizität. Eine phänomenologische und differenztheoretische Annäherung an einen inklusionspädagogischen Schlüsselbegriff." In Herausforderung Inklusion. Theoriebildung und Praxis, edited by Irmtraud Schnell, 40-50. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Luhmann, Niklas. 2001. "Das Medium der Kunst." In Niklas Luhmann. Aufsätze und Reden, edited by Oliver Jahraus, 198-217. Stuttgart: Reclam.

Neidhardt, Friedhelm. 1979. "Das innere System sozialer Gruppen." Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31:639-660.

Ortega y Gasset, José. 1964. Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst. München: dtv.

Parmentier, Michael. 2004. "Protoästhetik oder Mangel an Ironie. Eine etwas umständliche Erläuterung der These, dass Kinder zu ästhetischen Erfahrungen im strengen Sinne nicht fähig sind." In Ästhetische Erfahrungen in der Kindheit. Theoretische Grundlagen und empirische Forschung, edited by Gundel Mattenklott and Constanze Rora, 99-109. Weinheim; München: Juventa.

Anmerkungen:

1 Sounds of Buchheim ist ein großes soziokulturelles Stadtteilprojekt der Offenen Jazz Haus Schule, das seit sieben Jahren kontinuierlich eine reiche und diverse kulturpädagogische Infrastruktur mit wechselnden Schwerpunkten bietet (vgl. Krönig 2013, 92-107).

2 Die künstlerische Leitung liegt dabei bei dem Kontrabassisten und Improvisationsmusiker Achim Tang, wobei in diesem Rahmen ständig reflektiert wird, was »Leitung« in einem inklusiven Orchester bedeuten kann und darf.

3 Zu einem Definitionsversuch und einer Typologisierung von Barriere (Krönig 2015).

4 Tatsächlich gab es von Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit den Versuch, Teilnehmer mit Psychiatrieerfahrung zu exkludieren. Hier hat sich das Orchester kompromisslos durchgesetzt. Auch die Forderung mehrerer Akteure, man müsse offenlegen, um welche Personen und welche psychiatrischen Befunde es gehe, wurde von der Hand gewiesen. Rückendeckung erhielt das Orchester vom Kölner Gesundheitsamt, das telefonisch mit einem empörten Sarkasmus bestätigte: "Nein, es gibt von unserer Seite keine Vorgaben zur Diskriminierung von Psychiatriepatienten".

5 Beim Orchester machen mehrere Personen mit, die – wenn man das überhaupt differenzieren will – der Mittelklasse zuzurechnen wären (Akademiker, Lehrerinnen…). Die betreffenden Differenzen sind nicht als solche erkennbar, sondern zeigen sich erst in Gesprächen. Ob Armut im Orchester in irgend einer Form symbolisiert wird, wäre eine interessante Forschungsfrage.

6 Hierzu gibt es natürlich ganz verschiedene Positionen. Die Außenseite des Spannungsfeldes wird in der Kunstphilosophie durch Ortega y Gassets antidemokratischer Kunstauffassung (vgl. Ortega y Gasset 1964) markiert, der man heute nicht mehr folgen mag (was allerdings kein Argument ist). Die Trennung des hochschwelligen Ästhetischen (vgl. Parmentier 2004) vom niedrigschwelligen Aisthetischen ist zwar auch noch »unangenehm« für die kulturpädagogische Praxis, lässt sich aber genauso wenig einfach beiseite schieben wie die systemtheoretische Einsicht in die Unwahrscheinlichkeit von Kunst als spezifische und hoch voraussetzungsreiche Kommunikationsform (vgl. Luhmann 2001).

 

veröffentlicht von: Offene Jazz Haus Schule, Rainer Linke

©2019: Offene Jazz Haus Schule, Dr. Franz Kasper Krönig

Lektorat: radiX editorial köln

gefördert von:

AK Kultur und Wissenschaft klein