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One eye to the future, one eye to the past

Joscha Oetz

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Dieser Text ist Teil der Festschrift zum 40jährigen Jubiläum der Offenen Jazz Haus Schule im Jahr 2020. Die vollständige Festschrift als PDF-Datei kann hier abgerufen werden.

 

Musik ist mehr als Klang. Musik ist eine soziale Aktivität. Die OJHS ist sozial. Die OJHS bedeutet Klang. Darüber hinaus hat die Schule den Anspruch, Trennlinien zu hinterfragen wie zum Beispiel die scheinbaren Gegensatzpaare Künstler – Pädagoge, Musiker – Sozialarbeiter, Bühne – Straße, Freiheit – Struktur, Kunst – Kinder, ernste – unterhaltende Musik, behindert – nichtbehindert.

Ich bin seit 35 Jahren mit der Offenen Jazz Haus Schule (OJHS) verbunden. Die OJHS hat mich als Mensch, als Künstler und Pädagoge geprägt. In den 80er Jahren war ich als Teenager Teilnehmer. Nach dem Musikstudium wurde ich Dozierender und Teilnehmer an den Weiterbildungen der OJHS. Das hier Erfahrene und Gelernte wandte ich während meiner Aufenthalte in den USA und in Peru 2000 bis 2011 an verschiedenen Schulformen an. Seit der Rückkehr nach Köln sind meine Kinder Teilnehmende der OJHS. Nach einer Phase als Musiklehrer an einer Kölner Realschule kehrte ich 2016 als stellvertretender Leiter an die OJHS zurück, und im Sommer 2020 übernehme ich die Leitung der Schule.

Die OJHS ist aus der Community improvisierender Kölner Musiker*innen (Initiative Kölner Jazz Haus) entstanden und wird von Musiker*innen geprägt und gestaltet. Ich bin als Jazzmusiker sozialisiert, ich bin freiberuflich als Bassist und Komponist tätig, ich vermittle Musik und gestalte im Rahmen der OJHS auch Rahmenbedingungen für Musik und ihre Vermittlung. Dadurch sind die 200 Dozierenden der OJHS meine Kollegen sowohl auf der Bühne als auch im Klassen- oder Proberaum. Die Leitung der OJHS zu übernehmen, bedeutet für mich Verantwortung und packende Herausforderung, mit Kontinuität und Verbundenheit einerseits, Offenheit und Vision andererseits.

Das Wort »Jazz« ist ein schillernder Begriff, an dessen Definition sich die Geister scheiden. Er bezeichnet für mich das breite Spektrum Musik mannigfaltiger Stilrichtungen mit Improvisation und oraler Tradierung als zentralen Merkmalen. Die Frage nach der Definition des Begriffs Jazz ist hier zweitrangig; die Offenheit und Spontaneität dieser Musik zählen zu ihren wichtigsten Eigenschaften, die auch im Bereich der Vermittlung zentral sind und das Potenzial haben, auch auf anderen Ebenen in die Gesellschaft hinein zu wirken. Ganz selbstverständlich vermittelt diese Musik eine Haltung der Toleranz, Inklusion und Gleichberechtigung, sie fördert Intuition, Improvisations- und Reaktionsvermögen, Spiel- und Entdeckungsfreude, Respekt und Selbstbewusstsein.

Jazz und improvisierte Musik zu spielen, bedeutet für mich, Verbindungen zu schaffen und offen zu bleiben. Elvin Jones hat sinngemäß einmal gesagt: »Es geht mir darum, eine rhythmische Idee mit der nächsten und den simultan erklingenden Ideen so zu verbinden, dass sie im Flow sind und Sinn ergeben.« Mit anderen Worten: Es ging ihm darum, scheinbar Gegensätzliches oder Unterschiedliches zu verbinden und zusammen mit seinen Mitspieler*innen den Gesamtklang in gemeinschaftlicher Interaktion zu gestalten. Dafür braucht es bewusstes Hören dessen, was die anderen spielen, es braucht Offenheit und Empathie, es braucht die permanente Bereitschaft, die Ideen der anderen aufzunehmen und mit den eigenen zu verknüpfen, Bereitschaft auch, Verantwortung zu übernehmen, für die eigene Idee und für das Ganze.

Darum geht es in meiner Sicht auch bei der OJHS: Gemeinsam gestalten, offen sein für die Anregungen von anderen, Räume öffnen für diese Impulse; in der Interaktion zwischen Teilnehmenden untereinander, zwischen Dozierenden und Teilnehmenden, zwischen Institution/Leitung und Dozierenden sowie Teilnehmenden und als Ganzes mit der Gesellschaft, in der wir leben und agieren.

Es geht darum, Verbindungen zu schaffen und zusammen in einen konstruktiven Flow zu kommen. Es geht darum,

  • attraktive Angebote musikalisch-kultureller Bildung zu machen und zu entwickeln, die für möglichst viele Menschen zugänglich sind, unabhängig von Vorkenntnissen, Herkunft, Alter usw.;
  • die gesellschaftliche Funktion und Verantwortung einer Einrichtung wahrzunehmen, die gleichzeitig Musikschule, Weiterbildungseinrichtung und Bildungspartner ist;
  • für die freie Szene Kölner Musiker*innen (und darüber hinaus) ein verlässlicher und attraktiver Arbeitgeber zu sein;
  • in allen Bereichen (Teilnehmende, Dozierende, Mitarbeiter) ein so heterogenes Bild abzugeben wie die Gesellschaft um uns dies tut – und wie es ihr guttut. Dynamisch und verlässlich, offen und methodisch, systematisch, spontan und experimentell. Geerdet, doch immer beweglich. Kein Elfenbeinturm. Ein einladender, zugänglicher, lebendiger Raum für Kreativität, Bildung und Ausbildung: die Offene Jazz Haus Schule.
  • In der Jazz Haus Schule spielen Menschen, bilden ein Netzwerk aus Klang, Bedeutung und Beziehung. Sie arbeiten, diskutieren, träumen, entwickeln Ideen und Konzepte, frei von künstlichen Trennungen und Kategorien, die niemand etwas nützen. Teilnehmende, Dozierende und Mitarbeitende aller Farben und Kulturen, Kinder, Eltern und Großeltern, Mädchen, Jungen, Frauen, Männer und Diverse, behindert und nicht-behindert; eine ebenso bunte und vielfältige Gruppe von Menschen, die in Partner-Institutionen von Schulen, Jugend- und Bürgerzentren bis zu Musikhochschulen arbeiten, unterstützt durch Förderer aus dem öffentlich und privaten Bereich in Köln und weit darüber hinaus. Musiker*innen, Tänzer*innen, Pädagog*innen, schreibende und bildende Künstler*innen und Poet*innen aller Art, egal ob Profi oder Laie, mit oder ohne akademischen Titel.

Joscha Oetz

Kontrabass und Komposition. Studium an der Folkwang Hochschule, Essen, an der HfMT Köln und an der University of California, San Diego. Mit eigenen Projekten seit 2000 Produktion von sieben CDs, daneben Mitarbeit in diversen Gruppen mit großer stilistischer Bandbreite. An der OJHS seit 1997 als Dozent für Youngster- und Teenbands tätig, seit 2016 stellvertretender Leiter, seit 1.8.2020 pädagogisch-künstlerischer Leiter und Geschäftsführer.