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Geste & Groove-Embodiment
"practice as research" als Zukunftsaufgabe der OJHS

Marianne Steffen-Wittek

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Dieser Text ist Teil der Festschrift zum 40jährigen Jubiläum der Offenen Jazz Haus Schule im Jahr 2020. Die vollständige Festschrift als PDF-Datei kann hier abgerufen werden.

 

Auf ihrer Website äußert die Offene Jazz Haus Schule »den Anspruch, ihren innovativen konzeptionellen Ansatz und in der Praxis entwickelte Methoden zu dokumentieren. Infolgedessen ist die Arbeit der Offenen Jazz Haus Schule Ausgangspunkt zahlreicher Veröffentlichungen in Form von Artikeln in Fachzeitschriften, Büchern und multimedialen Inhalten.«

Ein weiter Bogen spannt sich von der ersten Veröffentlichung aus dem Dozentenkreis der OJHS mit Improvisationsmodellen für eine Jazzgruppe (Linke et al 1985) über Praxismaterialien für Kinder (Brüssel 2004) bis hin zur Betrachtung der Populären Musik im Kontext kultureller Bildung (Krönig 2013). Auch die zahlreichen CD- und DVD-Dokumentationen zeugen von der Vielfalt der Musikgenres und dem kreativen Umgang mit ihnen in der Praxis der OJHS. Ilka Siedenburg hebt die musikpädagogische Pionierarbeit der Offenen Jazz Haus Schule im Bereich der Populären Musik und des Jazz mit Kindern hervor: »Für die pädagogische Arbeit mit Kindern und die Integration des Jazz in die musikalische Früherziehung und Grundausbildung kommen von der Jazz Haus Schule Köln wesentliche Impulse. Bereits in den 1980er Jahren wurden hier erste Unterrichtsversuche unternommen, die später konzeptionell für verschiedene Altersgruppen ausgearbeitet wurden.« (Siedenburg 2018: 5) Tatsächlich hat die Offene Jazz Haus Schule seit den 1980er Jahren in vielerlei Hinsicht Pionierarbeit geleistet. Eine Musikschule, die sich dem Jazz und der Improvisation, aber auch dem weiten Feld der Populären Musik verschreibt, die Bandarbeit, Ensemble- und Gruppenarbeit sowie Einzelunterricht für alle Altersgruppen und unterschiedlichste Adressaten anbietet, war damals ein Wagnis, das aufgegangen ist. Dies ist nicht zuletzt dem Gründer und Leiter der OJHS, Rainer Linke, zu verdanken, der mit Umsicht und realistischen Zukunftsvisionen die organisatorischen, kaufmännischen, musikpädagogischen und künstlerischen Belange der Schule im Blick hatte. Ihm gelang es von Beginn an, die kollegiale, offene Teamarbeit in regelmäßigen Treffen, Diskussionen und internen Fortbildungen zu etablieren. In den nun vergangenen 40 Jahren hat sich ein nicht zu unterschätzendes Erfahrungswissen angesammelt, das es wert ist in Zukunft aus praxeologischer Sicht (1) weiter zu erforschen. Die räumliche und personelle Nähe zur Musikhochschule Köln hat bereits erfreuliche Kooperationen hervorgebracht. Darüber hinaus vernetzte sich die Schule mit vielen anderen Bildungseinrichtungen in Köln und Umgebung. Die Verzahnung mit dem Stadtgarten und Kooperationen mit dem Kölner Loft stellen darüber hinaus ideale Plattformen der künstlerischen Praxis dar.

Es bietet sich an, Practice as Research in diesen Umgebungen zukünftig noch stärker transdisziplinär zu nutzen. Von Beginn an bezog die Offene Jazz Haus Schule Rhythmiker:innen in die Konzeption und Durchführung von Kinderkursen ein. Musik und Bewegung waren hier untrennbar miteinander verbunden und bildeten die Basis der Musikpraxis von Populärer Musik und Improvisation mit Kindern. Solange der Studiengang Rhythmik (Musik und Bewegung) an der Musikhochschule Köln existierte, konnte die Schule auf Nachwuchs aus diesem Bereich für das Dozententeam bauen. In konzeptionellen und musik-didaktischen Überlegungen und Diskussionen, in gegenseitigen Fortbildungen von Jazzmusiker:innen und Rhythmiker:innen spielten der menschliche Körper und seine Bewegungen im Kontext von groovebasierter Musik und Improvisation immer wieder eine wichtige Rolle. Die bedauerliche Streichung des Studiengangs Rhythmik durch das Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 2002 und seine Empfehlung, das Fach Rhythmik in andere Studienbereiche zu integrieren (Steinmann 2019: 66) führten zu einer Schwächung praxeologischer Forschung und Lehre im Bereich Musik und Bewegung in NRW und zu einem Mangel an Rhythmik-Nachwuchs, nicht nur an der Offenen Jazz Haus Schule.

Ausgehend vom body turn der letzten Jahrzehnte in der Phänomenologie, Soziologie, Kultur- und Musikwissenschaft, will dieser Beitrag Reflexionen zur Musikpraxis mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen an der OJHS anregen, die den menschlichen Körper im Kontext der Populären Musik wieder stärker in den Vordergrund rücken. Exemplarisch sollen die Phänomene Geste und Groove-Embodiment herausgegriffen werden, die zumindest in der englischsprachigen Literatur als Forschungsgegenstand inzwischen äußerst differenziert untersucht und betrachtet werden.

Ist die Geste – jenseits von Musikgenres und Musikkulturen – allgemein-musikalisch von Bedeutung, so ist der Begriff Groove-Embodiment eng mit afro-amerikanischer Musik verbunden, aus der Musikgenres wie Blues, Jazz, Rhythm'n Blues, Rock'n Roll, Funk, Hip-Hop und viele andere hervorgingen.

Musikbezogene Gesten

Jüngere Forschungen auf dem Gebiet der Musikwissenschaft bestätigen, dass der menschliche Körper und seine Bewegungen untrennbar mit der kognitiven Ausführung von Musik verbunden sind. Wahrnehmung, mentale Prozesse und Körperbewegung spielen eine wichtige Rolle bei der Produktion musikalischer Qualitäten sowie bei der musikalischen Kommunikation und Interaktion. Neue Methoden wurden entwickelt, die in der Vergangenheit vernachlässigte Aspekte musikalischer Darbietungen in den Vordergrund rücken. Wissenschaftlich werden zwei Querschnittsthemen herausgestellt, die als effektive Hebel gelten, um Musik-Erleben und -Bedeutung in der Musikperformance untersuchen zu können. Dazu zählen auf der einen Seite Gesten und nonverbale Kommunikation, auf der anderen Seite Entrainment (2) und Interaktion (Clayton/Dueck/Leante 2013: 3). Gesten sind in der Musikpraxis allgegenwärtig. Es lohnt sich, diese vertraute menschliche Äußerungsform im Sinne eines tieferen Verständnisses für die musikimmanenten Qualitäten genauer zu betrachten.

Gesten und Klang

Musikbezogene Gesten spielen sowohl bei der Musikrezeption als auch bei der Musikproduktion eine wesentliche Rolle. Marc Leman und Rolf Inge Godøy unterscheiden bei Musiker:innen zunächst zwei Ebenen von Gesten. Auf der ersten Ebene siedeln sie die physikalischen Bewegungen an, mit denen Klänge erzeugt werden (extension – der Körper und seine Bewegungen im Raum). Auf der zweiten Ebene lassen sich diejenigen Bewegungen betrachten, die für Ausdruck und Bedeutung stehen (intention – Imagination und Erwartung). Je nach Perspektive sind unterschiedliche Gestentypen und die mit ihnen verbundenen Absichten zu erkennen. Zu nennen sind die körper-bezogenen Gesten, zu denen z. B. Dirigierbewegungen, klangproduzierende Bewegungen, Signale für das Zusammenspiel und Körperhaltungen zählen. Von ihnen lassen sich die klang-bezogenen Gesten unterscheiden, die einer gehörten Klangbewegung folgen (Leman/Godøy 2010: 6).

Eine gelingende Musikpraxis, sei es im Bereich der klassischen oder populären Musik, kommt ohne solche Gesten und ihre Deutungen nicht aus. Welche Rolle kann die Geste, die jedem Menschen als körperlicher (Nach-) Vollzug von Musik vertraut ist, bei der vertieften Wahrnehmung und Ausübung von Musik spielen? Gesten lassen sich als eine Kategorie unseres Wahrnehmungs-Aktions-Systems betrachten. Wenn Probanden zur Musik ein imaginäres Instrument spielen, den Ton durch Gesten verfolgen oder sich frei zur Musik bewegen, sind drei Kategorien von klangbezogenen Gesten erkennbar, die sich nach bestimmten Klangstrukturen richten: sich wiederholende Klänge (Iterative), impulsive Klänge und anhaltende Klänge (Godøy 2010: 111). Beim Singen und Instrumentalspiel können körperliche Gesten klang-erzeugende, klang-erleichternde, klang-begleitende und kommunikative Funktionen haben (Jensenius et al. 2013:13).

Struktur von Gesten

Die Untersuchung von Strukturen der Gesten selbst ermöglicht Einblicke in die körperlichen Nuancen und Bewegungsfeinheiten, mit denen musikalische Qualitäten generiert werden. Ausdrucksstarke Gesten von Musiker:innen bilden eine markante Gesteneinheit: Von der neutralen Position hin zur eigentlichen Bewegung und zurück in die neutrale Position. Dabei sind zwei klare Zeitpunkte zu erkennen, um eine solche Gestenphrase zu codieren: der Beginn der Geste und der Zeitpunkt, an dem der gestikulierende Körperteil in die neutrale Position zurückkehrt (Nikki Moran 2013: 47). Für die Wirksamkeit und Verständlichkeit von Gesten sind auch ihre räumlichen Zielpunkte entscheidend. Außerdem nutzen Menschen sogenannte Sound-Gesten-Chunks (3) um Musik körpersinnlich zu erfassen (Godøy 2010: 120-121). Das implizite Wissen um solche Strukturmerkmale von Gesten kann durch Practice as Research bewusster und differenzierter aus dem Tun in die Theorie und wieder zurück in eine qualitativ bereicherte Musikpraxis fließen und so auch an der OJHS im Kontext groove-basierter Musik wirksam werden.

Multimodale Wahrnehmung von Musik mittels Gesten

Gesten sind multimodal (Audio- und Bewegungsmodalität), mehrstufig (sie decken den Einsatz von Bewegung im begrenzten Raum und ausgedehnteren räumlichen und zeitlichen Rahmen ab) und monistisch (sie überbrücken die Trennung von Körper und Geist). Neben ihrer hierarchischen Struktur weisen sie auch kompliziertere, verschachtelte Strukturen auf (Leman 2010: 148). Äußerst hilfreich für die Musikpraxis mit allen Altersgruppen und verschiedenen Adressaten ist die Frage, welche bereits vorhandenen Fähigkeiten bei musikhörenden Menschen mittels Gesten zum Zuge kommen. Musikalische Laien haben die Fähigkeit zur hörenden Erkennung einer Audioquelle bezogen auf Material und Klangaktion (ökologisches Wissen).

Ferner können Hörer:innen ohne musikalische Ausbildung komplexe musikalische Klänge in Gestenblöcke umwandeln. »Der ständige Wechsel zwischen Wahrnehmen und Handeln oder zwischen Zuhören und Machen (oder nur Vorstellen) von Gesten bedeutet, dass Musikwahrnehmung in dem Sinne verkörpert ist, dass sie eng mit körperlicher Erfahrung verbunden ist (...), und dass Musikwahrnehmung in der Welt multimodal geschieht. Wir nehmen Musik mit Hilfe von visuellen/kinematischen Bildern und Kraft-/ Dynamik-empfindungen zusätzlich zum reinen Klang wahr (...). « (Godøy 2010: 106; Übersetzung aus dem Engl. M. St-W.)

Die Hände spielen bei musikbezogenen Gesten eine vorrangige Rolle, und Handbewegungen werden seit jeher mit Kognition und Expressivität verbunden. »In mehreren Fällen musikbezogener Gesten sehen wir, was als Übersetzung von einem Instrumental- oder Vokalmedium zu einer bi-manuellen Bewegung bezeichnet werden könnte, z. B. von recht komplexen musikalischen Texturen hin zu vereinfachten bi-manuellen Bewegungen als einer Art ‚Klavierauszug‘. Der wesentliche Punkt ist, dass dies eine aktive Wiedergabe des musikalischen Klangs ist und dass das aus einer willkürlichen, egozentrischen Perspektive ‚Ich mache‘ aus der ersten Person Perspektive erfolgt, unabhängig von der Komplexität der Klangquelle (...).« (Godøy 2010: 109)

Diese Erkenntnisse können sowohl in der Ausbildung von Jazzmusiker:innen als auch in der beruflichen Musikpraxis im Einzel- und Gruppenunterricht mit verschiedenen Adressaten noch stärker in den Fokus gerückt werden, um Flow, Präsenz und Ursache-Wirkung-Erfahrungen zu ermöglichen. Hier ist die erste Person Perspektive hilfreich als Methode für die Untersuchung von Gesten. Intentionalität, soziale Interaktion und Empathie zählen zur zweite Person Perspektive, während das quantitative Messen von Gesten auf der dritte Person Perspektive anzusiedeln ist (Leman 2010: 149). Körperliche und mentale Vernetzungen werden bei musikbezogenen Gesten wirksam und manifestieren sich in verschiedenen Transformationen: synästhetisch, kinästhetisch und innerkörperlich/cenesthetic (den allgemeinen Sinn für die körperliche Existenz und die Empfindungen der inneren Körperorgane betreffend) (ebd.).

Dieser kleine Einblick mag genügen, um die Vielfalt an Forschungsmöglichkeiten allein schon im Bereich der musikbezogenen Gesten zu beleuchten. Die Dozenten und Dozentinnen der Offenen Jazz Haus Schule verfügen über ein reichhaltiges tacit knowledge beim Einsatz von Gesten in der Musikpraxis. Selten jedoch werden im deutschsprachigen Raum musikbezogene Gesten im Bereich der groove-basierten Musik erforscht. An der OJHS bieten sich zahlreiche Gelegenheiten, Musikpraxis im Kontext von Groove und Geste zu untersuchen.

Groove-Embodiment

Körper und Musik
Insbesondere an groove-basierter Musik, die auf Einflüsse und Genres der Black Atlantic Music (u.a. kubani- sche, brasilianische, afro-amerikanische Musik) zurückgeht und die zeitliche Interaktion hervorhebt (Doffman 2013: 63), lässt sich die enge Verbindung von Körper und Geist studieren. Der Begriff Groove wird seit dem ers- ten Auftauchen als Platten-Songtitel 1937 (In The Groove von Andy Kirk) auf zwei Ebenen gebraucht. Zum einen dient er der Beschreibung von Gestaltungsmerkmalen (wie der Wiederholung von ineinander verschachtelten Patterns mit all ihren strukturellen und klanglichen Feinheiten). Zum anderen bezeichnen Musiker/in- nen damit ein erlebtes, interaktives Spielgefühl (ebd.: 63-64). Inzwischen widmen sich Forscher/innen auf der ganzen Welt von verschiedenen Seiten diesem wichtigen Thema, unter Berücksichtigung des menschlichen Körpers und seiner Bewegungen. Der Jazzpianist und Musikwissenschaftler Vijay Iyer geht in seinen Studien zum Thema Embodied Mind auf den afrikanischen Anteil nordamerikanischer Groove-Musik ein und stellt die dichte Vernetzung von Körper und Geist bei den wichtigsten Gestaltungsmerkmalen heraus (Iyer 2002: 405). Allerdings warnt er mit Nachdruck vor den rassistischen Mythologien, mit denen das Studium der afroamerikanischen Kultur im Kontext des Körpers lange Zeit behaftet war. »Historisch betrachtet wurde afro-ameri- kanische Kulturpraxis von der westlichen Mainstream-Kultur als das Reich des Physischen, des Sinnlichen und des Intuitiven gesehen, das im diametralen Gegensatz zum Intellektuellen, Formalen und Logischen steht.« (Iyer 2002: 397; Übersetzung aus dem Engl. M. St-W.) Iyer betont, dass eine aufgeklärte Betrachtung af- ro-amerikanischer Musik, die die Verkörperung von Musik reflektiert, jenseits der alten Dichotomie von Körper und Geist anzusiedeln ist. Der Autor verweist auf McClary und Walser, wenn er ergänzt: »I must stress that ‚to discuss the bodily aspects of cultural texts or performances is not to reduce them,’« (ebd.) was auch für diesen Beitrag gilt. Iyer stellt drei Komponenten von Rhythmuswahrnehmung und Körperbewegungen vor: eine phrasierte/ körperbeeinflussende Komponente (atembasiert), eine Taktus-/ Fußklopfkomponente (auf Gliedmaßen-Bewegungen basierend) und eine schnelle Mehrfingertipp-Komponente (sprach- oder ziffernbasiert) (Iyer 2002, S. 396). Er stellt heraus, wie eng körperliche Vorgänge und musikalische Komponenten korrelieren, wenn er weiter differenziert und zeitliche Bezüge herstellt:

  • Atmung, mäßige Armgesten, das Schwingen des Körpers = musikalische Phrase (0,1-1 Hz = 6-60 bpm)
  • Herzschlag, Saugen, Kauen, Gehen, Liebe Machen, Kopfnicken = musikalischer Puls (tactus) (1-3 Hz = 60-180 bpm)
  • Sprechbewegungen, Handgesten, digitale Bewegungen = kleinste musikalische Unterteilungen des Pulses, im schnellen Tempo notierte Rhythmen (3-10 Hz = 180-600 bpm)
  • Phoneme, schnelle Vorschläge zwischen den Fingern oder Gliedmaßen = Verzierungen, Abweichungen, Asynchronitäten, Mikrotiming (10-60 Hz = 600-3.600 bpm) (Iyer 2000: 393)

Auf der Seite der Hörer:innen von groove-basierter Musik sind die unterschiedlichsten Bewegungen festzustellen, von denen bestimmte Bounce-Bewegungen z. B. im Step-Touch- Modus ein Zeichen für intrapersonelles Entrainment sein können. Nicht nur in der Erforschung der groove-basierten Musikpraxis hat sich der – aus der Physik stammende – Begriff Entrainment (Mitnahme, Mitschwingen) etabliert, wenn das Phänomen des musikalischen Ein- und Mitschwingens intrapersonell, interpersonell und zwischen Gruppen untersucht und beschrieben wird. Groove-Musik ist allerdings geradezu prädestiniert um mehr über musik-bezogenes Einschwingen zu erfahren. Entrainment ist allen bekannt, die als Publikum erlebt haben, wie das individuelle enthusiastische Beifallklatschen allmählich synchronisiert wird. In den meisten musikalischen Situationen können Teilnehmer:innen ideale Ebenen oder Formen des Entrainments erkennen, von keiner bis zu einer sehr engen Synchronisation, obwohl das Entrainment spontan erfolgt. Eine perfekte 1:1-In-Phase- Synchronisation wird in der Praxis nur gefunden, wenn sie maschinengeneriert ist (Clayton 2013: 22). Drei Ebenen von musikalischem Entrainment sind in der Musikpraxis zu beobachten: intraindividuell, interindividuell/innerhalb einer Gruppe (intra-group) und zwischen Gruppen (inter-group) (ebd. 30-39).

Rhythmischen Designs von groove-basierter Musik wie Swing, Funk, Reggae, Latin und Rock lassen sich nicht mit Begrifflichkeiten der klassisch-europäischen Kunstmusik umschreiben und analysieren. Gestaltungsmerk- male wie isochroner Puls, Timeline Patterns, zyklische Groove Patterns, Beat – Onbeat – Offbeat – Cutbeat, Downbeat – Backbeat, Drive, mikrorhythmische Verschiebungen, Polyrhythmik usw. lassen sich weder umfas- send notieren, noch von Noten ablesen. Es bedarf des teilnehmenden Hörens und des geistigkörpersinnlichen Mitvollzugs, um die Bedeutung und Qualitäten dieser Musik zu erfassen.

Mark Russel Doffman untersuchte in einer Studie zum Thema Feeling the Groove u. a. Körperbewegungen von Jazzmusiker*innen während des Zusammenspiels. Er fand Bewegungen, die unterschiedlichen Zwecken die- nen oder gleichzeitig auf mehreren Ebenen funktionieren. Dazu gehören

  • individuelle Körperbewegungen, die den eigenen Groove beim Spielen intensivieren;
  • demonstrativere Bewegungen, die den Groove zwischen den Spielern direkt auszudrücken scheinen und die Interaktionssynchronität zwischen den Musiker:innen erhöhen; sie dienen der Kommunikation untereinander;
  • Bewegungen, die der Kommunikation mit dem Publikum dienen;
  • Bewegungen, die auf mehreren dieser Ebenen gleichzeitig angesiedelt sind (Doffman 2008: 259).

Auf gespeicherte Sinneswahrnehmungen, Einschreibungen in den Körper als Erfahrungswissen und körperliche Vernunft verweist auch der Jazzvibraphonist Christopher Dell. »Improvisation trennt nicht zwischen Denken und Handeln, sondern verdichtet die Bewegungen zwischen den Körpersystemen.(...) Denken wird als körperliche Praxis begriffen, es ist eingelassen in das unstete materielle Feld der Erkenntnis.« (Dell 2002:142) Die strategische Technik der Improvisation ist über die Musik hinaus notwendig, um mehrdimensionale Rhythmen im System der nonverbalen Kommunikation erkennen und nutzen zu können (ebd.: 149). Improvisationsvorgänge in der groove-basierten Musik bedürfen der nonverbalen Kommunikation und Interaktion, die ohne Verbindung von Körper und Geist undenkbar sind.

Weibliche Körper im Jazz?

Wurde die praktische und theoretische Auseinandersetzung mit Jazz-Musik hauptsächlich von Männern dominiert, so zogen im ausgehenden 20. Jahrhundert die Frauen etwas nach. Allerdings sind sie im professionellen Bereich weltweit noch immer unterrepräsentiert.

Die Offene Jazz Haus Schule hat Fragen nach den Gründen und Überlegungen zu Gegenmaßnahmen im eigenen Haus nie gescheut. Durch die Öffnung der OJHS für Kindergruppen ab vier Jahren gelang der Versuch, Mädchen und Jungen gleichermaßen an improvisierter und populärer Musik teilhaben zu lassen. »Zunächst stand man vor dem Problem, Personal zu finden, das sowohl über Qualifikationen im Jazz als auch über Erfahrungen in der Arbeit mit jüngeren Kindern verfügte. Man entschied sich für den Einsatz von Rhythmik-Lehrkräften, die ihre Kompetenzen in den Bereichen Improvisation und Bewegung sowie ihre pädagogischen Qualifikationen einbringen und sich bei Bedarf innerhalb der Jazz Haus Schule stilistisch weiterbilden konnten.« (Siedenburg 2018: 5-6)

Bestand das Dozententeam für die Erwachsenengruppen an der OJHS anfangs vorwiegend aus Männern, so wuchs der Frauenanteil zunächst durch die Rhythmikerinnen, die hauptsächlich mit den neu etablierten Kindergruppen arbeiteten. Später kamen neben den Sängerinnen auch immer mehr Jazz-, Rock-, und Pop-Instrumentalistinnen als Dozentinnen hinzu. Betrachtet man die Liste der Lehrenden der OJHS heute, so hat sich der Anteil der Frauen nicht nur im Gesangs- und Kindergruppenbereich enorm erhöht. Je nach Erkenntnisinteresse, Fragestellung und Theorieperspektive wird Körper soziologisch als Produkt von Körperinszenierungen und Groove in den Medien.

Körperinszenierungen und Groove in den Medien

Je nach Erkenntnisinteresse, Fragestellung und Theorieperspektive wird Körper soziologisch als Produkt von Gesellschaft (Körperformung, Köperdiskurs, Körperumwelt, Körperrepräsentation, Leiberfahrung) oder als Produzent von Gesellschaft (Körperroutinen, Körperinszenierungen, Körpereigensinn) untersucht (Gugutzer 2002: 14-20). Hier ist nicht der Rahmen, um soziologische Perspektiven auf den Körper zu vertiefen und kritisch zu beleuchten. Sie werden erwähnt, um auf ein weiteres Tool zur Analyse von weißen, schwarzen, männlichen, weiblichen, diversen usw. Körperinszenierungen im Kontext von Groove-Musik in den Medien zu verweisen. Trifft es heute noch zu, dass Bezeichnungen wie ‚schwarze Musik‘ und ‚Frauen in der Popmusik‘ sehr viel häufiger vorkommen als ‚weiße Musik‘ und ‚Männer in der Popmusik‘? Und stimmt es nach wie vor, dass die heutige Kultur und der Musikmarkt von weißen Männern beherrscht werden? (Wolff 1996: 12) Die Jazzschlagzeugerin Terri Lyne Carrington gründete 2018 das Institute of Jazz and Gender Justice am Boston Berklee College of Music, mit dem Untertitel Jazz without Patriarchy (Akalin 2019). Dies lässt erkennen, dass weiterhin ein großer Bedarf besteht, Frauen im Jazz Gehör zu verschaffen. Innerhalb und abseits des Mainstreams finden sich mediale Präsentationen von groove-basierter Musik, die rassistische und sexistische Rollenzuschreibungen in Frage stellen und gelungene Verkörperungen von Groove- und Jazzmusik zeigen. Eine subjektive Auswahl, bei der die verschiedenen Aspekte von Gesten und Groove-Embodiment aufscheinen, mag als Anregung für die Recherche nach weiterem Anschauungsmaterial dienen:

Practice as Research an der OJHS

Musik, in der Groove, Sound und Improvisation prägend sind, verlangt nach angemessenen, spezifischen Zugangs- und Vermittlungswegen. Nicht nur bei der angeleiteten Begegnung von Kind und Musik spielen der Körper und die menschliche Bewegung eine Schlüsselrolle.

Gegenüber den 1980er Jahren kann heute auf eine Fülle von Forschungen zu den Phänomenen Embodiment, Groove und Improvisation als Grundlage für entsprechende Konzepte bei der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen im Einzel- und Gruppenunterricht zurückgegriffen werden. Auch die Offene Jazz Haus Schule selbst betreibt Practice as Research und hat in ihrer 40jährigen Geschichte ihre Musikpraxis immer wieder reflektiert, evaluiert und weiter entwickelt. In ihren jazz-orientierten, groove-basierten, inklu- siven Ansätzen ist sie federführend und kann auch in Zukunft die Vernetzung mit dem Stadtgarten und die Kooperation mit dem Kölner Loft als künstlerische Ressourcen nutzen. Über den Tagesbetrieb hinaus lohnt es sich, eine zukunftsweisende Verbindung von Theorie und Praxis zum Thema Embodied Mind im Kontext groove- basierter Musik zu vertiefen.

Literatur:

  • Akalin, Dylan Cem (2019): Atemberaubend: Terri Lyne Carrington and Social Science in der Philharmonie Köln http://jazzandrock.com/?p=9355
  • Brüssel, Conny (2004): Fred und andere Ungeheuer. Songs – Zum Singen, Spielen und Improvisieren für das 1. – 5. Schuljahr, herausgegeben von der Offenen Jazz Haus Schule Köln. Doffman, Mark Russel (2008): Feeling the Groove: shared time and its meanings for three jazz trios, Desertation (The Open University, Music Department).
  • Clayton, Martin/Dueck, Byron/Leante, Laura (Hg.) (2013): Experience and Meaning in Music Performance, New York: Oxford University Press. Dell, Christopher (2002): Prinzip Improvisation, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König.
  • Doffman, Mark Russel (2013): Groove Temporality, Awareness and the Feeling of Entrainment in Jazz, in: Martin Clayton, Byron Dueck, Laura Leante (Hg.): Experience and Meaning in Music Performance, New York: Oxford University Press, S. 62-85.
  • Godøy, Rolf Inge (2010): Gestural Affordances of Musical Sound. In: Rolf Inge Godoy, Marc Leman (Ed.): Musical Gestures. Sound, Movement, and Meaning, New York, London: Routledge (P. 103-125).
  • Iyer, Vijay (2002): Embodied Mind, Situated Cognition, and Expressive Microtiming in African-American Music, in: Music Perception: An Interdi- sciplinary Journal, Bd. 19, Nr. 3 (Spring 2002), S. 387-414.
  • Krönig, Franz Kasper (2013): Populäre Musik in der kulturellen Bildung. Gedanken, Wege, Projekte zu einer inklusiven Musikpädagogik und di- daktischer Öffnung, herausgegeben von der Offenen Jazz Haus Schule Köln, Reihe: Pädagogik: Perspektiven und Theorien Herausgegeben von Johannes Bilstein, Oberhausen: Athena Verlag.
  • Leman, Marc/Godøy, Rolf Inge (Hg.) (2010): Musical Gestures. Sound, Movement, and Meaning, New York: Routledge.
  • Linke, Rainer/Manderscheid, Dieter/Schmitz, Reinhart/Ulrich, Joachim (1985): Offene Jazz Haus Schule – Materialien für die Arbeit mit Jazz- gruppen, herausgegeben von der LAG Musik NRW, Remscheid.
  • Moran, Nikki (2013): Social Co-Regulation and Communication in North Indian Duo Performances, in: Martin Clayton, Byron Dueck, Laura Leante (Hg.) (2013): Experience and Meaning in Music Performance, New York: Oxford University Press, S. 40-61.
  • Petzold, Hilarion (2001): Überlegungen zu Praxeologien – körper- und bewegungsorientierte Arbeit mit Menschen aus integrativer Perspektive, in: Wolfgang Steinmüller/Karin Schaefer/Michael Fortwängler (Hg.): Gesundheit – Lernen – Kreativität. Alexandertechnik, Eutonie Gerda Alexander und Feldenkrais als Methoden zur Gestaltung somatopsychischer Lernprozesse, Bern/Göttingen/ Toronto/Seattle: Hans Huber, S. 225-243.
  • Siedenburg, Ilka (2018): Jazz für Kinder! Potenziale und Herausforderungen, zwischen Improvisation und Groove, Zeitschrift Ästhetische Bil- dung, zaeb.net Jg. 10, 2018 Nr. 1. http://zaeb.net/wordpress/wp-content/uploads/2018/04/Siedenburg_finfin.pdf
  • Steffen-Wittek, Marianne: Real Time Subtleties. Jazz, Groove und Drumset im Kontext der Rhythmik, in: Marianne Steffen-Wittek, Dorothea Weise, Dierk Zaiser (Hg.) (2019): Rhythmik – Musik und Bewegung. Transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld: transcript, S. 137-160.
  • Steinmann, Brigitte (2019): Genese der Rhythmik als Hochschulfach, in: Marianne Steffen-Wittek, Dorothea Weise, Dierk Zaiser (Hg.): Rhythmik – Musik und Bewegung. Transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld: transcript, S. 63-71.
  • Wolff, Karsten (1996): Trommeln und Teutonen. Afrikanische Musik auf dem deutschen Pop-Musikmarkt (Schriftenreihe zur Popularmusikfor- schung 1), hg. von Helmut Rösing in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Studium populärer Musik (ASPM), Hamburg, und dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg, Karben: Coda.

 

Anmerkungen:

1 Der in der Bewegungs- und Tanzwissenschaft inzwischen gebräuchliche Begriff der Praxeologie bezeichnet Erfahrungswissen, das durch systematische Beobachtung und methodisches Erproben erlangt wurde (Petzold 2001: 226). »Durch Methoden, die als solche reflektiert wurden, sind Wissensbestände entstanden, ein Praxiswissen. Aus diesem können im Prozess seiner Elaboration theoretische Konzepte und Konstrukte generiert werden, die sich zu Theorien von zunehmender Komplexheit entwickeln können, welche wiederum in die Praxis zurückwirken und diese zu verändern vermögen.« (Ebd.: 226-227).

2 In der Physik steht Entrainment für den Prozess, bei dem zwei interagierende oszillierende Systeme, die unterschiedliche Perioden haben, nach einer gewissen Zeit dieselbe Periode annehmen, obwohl sie unabhängig voneinander funktionieren. Die beiden Oszillatoren können synchron sein, es sind jedoch auch andere Phasenbeziehungen möglich. Das System mit der höheren Frequenz verlangsamt sich und das andere beschleunigt (WikiPedia.org; Internet Reference, 2009). Im Kontext der Musik wird der Begriff verwendet, um das Phänomen und die Strukturierung von intrapersonellen und interpersonellen Körperprozessen und -bewegungen im Rhythmus der Musik zu bezeichnen.

3 Um beim Hören eines kontinuierlichen Klangstroms zu entscheiden was was ist, wird er in einem Wahrnehmungs-Aktionszirkel in chunks (Brocken) segmentiert. So können Klangereignisse identifiziert und entschieden werden welche Gesten damit korrelieren. »When listening to unfamiliar music, we obviously will do this chunking and gesture assignment in retrospect, except in cases where the type of music is very predictable, whereas in familiar music, we may also do this prospectively: we may think ahead in terms of gesture chunks before we actually hear the sound.« (Godøy 2010: 120)

Marianne Steffen-Wittek

Schlagzeugerin und emeritierte Professorin für Rhythmik und EMP, lehrte an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und arbeitet zurzeit an der Folkwang Universität der Künste Essen. Vorher war sie Dozentin und stellvertretende Leiterin der Offenen Jazz Haus Schule Köln, Lehrbeauftragte der Musikhochschule Köln sowie freie Mitarbeiterin beim Schulfunk des WDR. Sie ist als Jazzmusikerin, Autorin und Gastprofessorin international tätig.