Über Hip-Hop, Inklusion, Diversität und Teilhabe
Joscha Oetz
Dieser Text ist Teil der Festschrift zum 40jährigen Jubiläum der Offenen Jazz Haus Schule im Jahr 2020. Die vollständige Festschrift als PDF-Datei kann hier abgerufen werden.
Die Offene Jazz Haus Schule (OJHS) versteht sich grundsätzlich inklusiv und entwickelt Wege, niemanden auszuschließen und mit Unterschiedlichkeit als dem Normalfall gelassen umzugehen. Mit der Einrichtung des Musik-Förder-Fonds im Jahr 2019 hat die OJHS einen wichtigen Schritt gemacht. Durch die Vergabe von Förderstipendien wird es Kindern und Jugendlichen aus finanziell schwächer gestellten Familien leichter gemacht, an Angeboten teilzunehmen, die sich durch Teilnehmerbeiträge finanzieren.
Es zeigt sich jedoch, dass fehlendes Geld nur ein Teil der sprichwörtlichen Barrieren ist, an denen der Zugang zu musikalisch-kultureller Bildung oft scheitert. Diese Hürden sind vielfältig und individuell sehr unterschiedlich. Das Verständnis für den Wert der Beschäftigung mit Musik ist in manchen Familien weniger ausgeprägt als in anderen. Die Vorstellung höherer Töchter und Söhne als derjenigen, die sozusagen natürlicherweise, als Teil ihrer Privilegien, Instrumentalunterricht erhalten, ist noch sehr prävalent. Anderen Menschen scheint im Verständnis der eigenen Klassenzugehörigkeit die Teilnahme an Musikschulaktivitäten etwas darzustellen, was für sie außer Reichweite ist. Um eine tiefgehende Analyse dieser Barrieren und Klassenunterschiede kann es hier nicht gehen. Nur so viel: Sie sind hartnäckig und psychologisch wie kulturell tief verwurzelt. In einer demokratischen Gesellschaft, die auf Gleichberechtigung, auf Chancengleichheit setzt, haben sie nichts zu suchen. Um sie abzubauen, bedarf es einer Vielzahl von Maßnahmen. Das Zwischenmenschliche im gemeinsamen Handeln ist dabei ein entscheidender Faktor.
Ein wichtiger und wirksamer Weg, Kindern aus unterprivilegierten Verhältnissen das Gefühl zu geben, dass sie wahr- und ernstgenommen werden, ist, sich mit ihrer Musik auszukennen, und das ist in vielen Fällen Hip-Hop. Einiges hat sich am Hip-Hop verändert, seitdem er Ende der 70er Jahre in den Ghettos von New York entstand. Viele Aspekte der Kultur, die über Jahre ein rein lokales Phänomen war, sind mittlerweile im Mainstream der populären und kommerziellen Kultur angekommen. Hip-Hop bleibt jedoch nicht stehen, sondern verändert sich stetig, und seine neuen Formen werden immer wieder schnell vereinnahmt von der Maschine der Musikindustrie. Oft beinhaltet die Musik kontroverse Texte, abstoßende Gewaltverherrlichung, feiert zweifelhafte bis extrem destruktive Lebensentwürfe und pure Menschenverachtung. Trotz dieser negativen Seiten und aller Veränderung ist Hip-Hop aber unverändert eine vitale Musikkultur der weniger Privilegierten.
Hip-Hop ist in mancher Hinsicht das Gegenteil von akademisch. Das kann man/frau auch daran erkennen, dass viele akademisch geprägte Menschen scheinbar keinen Zugang zu dieser Kultur aufbauen können. Dies liegt natürlich an gesellschaftlichen Normen, die es zu überwinden gilt. Hip-Hop kann mit anderen Worten eine Art Mauer sein, die Menschen trennt, aber auch ein Weg, auf dem Menschen zueinander kommen können.
Hip-Hop bietet viele Identifikationspunkte für suchende Heranwachsende, gerade auch mit Migrationshintergrund. Jugendliche können sich mit den (Kunst-)Figuren identifizieren, sie bilden ihre Identität teilweise mit Hilfe der »Werte« dieser Kultur und finden hier Vorbilder. Dieses Phänomen hat Hip-Hop mit anderen Jugendkulturen gemeinsam (Skater, Emos, Punks etc.). Hinter der scheinbar unpolitischen Fassade und neben den krassen Auswüchsen an sexistischen, homophoben, rassistischen, materialistischen Ausdrucksweisen ist Hip-Hop immer noch und in Deutschland mehr denn je Sprachrohr für eine Vielzahl und Vielfalt von Menschen. Selbstbewusste, starke und eigene Persönlichkeiten, die ihr Leben am Rand der dominierenden Kultur führen, ihren Weg gehen und einen Ausdruck des Heute, Hier und Jetzt kreieren, waren immer wichtige Modelle in der Jugendkultur. Diese Modelle sind im Hip-Hop auch heute meist nicht weiß, ein Umstand, der die Identifikation mit ihnen für nicht-weiße Jugendliche leichter macht.
Hip-Hop entwickelt sein eigenes Vokabular, seine Codes und Chiffren, Rituale, Ikonographie und Szene-Phänomene konstant weiter. Die Ästhetik der Musik entwickelt sich in Flow (Rhythmus) und Klängen, genau wie der dazugehörende Tanz und die Kleidung. Die Sprache der Texte spiegelt eine nach vielen Seiten offene Welt wider. In das deutsche Hip-Hop-Idiom fließen englisches, arabisches, türkisches, spanisches, französisches Vokabular ein.
Wer sich für Hip-Hop in seiner Aktualität und nicht nur im musealen Sinn interessiert, tut gut daran, sich auch für die Jugendlichen zu interessieren, denn diese sind natürlicherweise am Puls der Zeit in Sachen Hip-Hop. Sie sind Teil der Jugendkultur, sind auf dem neuesten Stand der aktuellen Entwicklung, wie es eine erwachsene Person nie sein kann. Diese Beachtung von einem Erwachsenen zu spüren, festzustellen, dass die ältere Person ihre Interessen und Vorlieben ernst nimmt, bedeutet oft viel für Jugendliche. Überhaupt wahrgenommen zu werden, jenseits von Rollen wie »Störenfried«, »schwache*r Schüler*in«, kann schon Positives bewirken. Jemanden ernst- und wahrzunehmen, ist selbstredend auch die Basis für gemeinsame kreative Arbeit und bedeutet immer auch eine Bereicherung für die wahrnehmende Person. Wenn mit Kindern und Jugendlichen, für die das Nicht-wahrgenommen-Werden Alltag ist, gemeinsames Texteschreiben, Songwriting, Proben und Musikmachen einmal in Fahrt kommen, entsteht oft ein intensiver Fokus, eine starke Energie.
Diversität ist für Musiker*innen aus dem Bereich der Improvisation und des Jazz eine Selbstverständlichkeit und Voraussetzung für ihr künstlerisches Handeln. Lebendige Musik, Musik des Jetzt hat sich schon immer dadurch entwickelt, dass sie neue Einflüsse in sich aufnahm, dass sie sich ändernde Voraussetzungen in der sie umgebenden Welt verarbeitete. Künstler*innen oder Musiker*innen, die etwas Neues, Andersartiges oder sehr Persönliches zu sagen haben, werden in Jazz und Improvisation geschätzt. Das Außergewöhnliche hat einen hohen Wert, Konformität ist uninteressant. Die Möglichkeiten, Wörter, Töne, Klangfarben, Rhythmen und Stimmungen zu wählen, um im Moment ein Stück zu erfinden, sind unendlich. Neue Mixturen, das Beschreiten neuer Wege erfordern Mut, Energie, Beharrlichkeit und Kreativität. Wenn Menschen mit verschiedenen Hintergründen sich zusammentun, um etwas zu erschaffen, stehen die Chancen gut, dass Bekanntes hinterfragt wird und dass Neues und Zeitgemäßes entsteht.
In den 40 Jahren seit der Gründung der OJHS hat sich die deutsche Gesellschaft stark verändert. Die Menschen in diesem Land sind in Bezug auf ihre Herkunft, auf ihr Äußeres, auf ihre Religion und Kultur so unterschiedlich wie nie. Diversität als Chance zu begreifen, ist als Floskel aus dem Munde von Politiker*innen wohlbekannt. Dies ist erst seit relativ kurzer Zeit der Fall, etwa so lange wie die Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Vielfalt wird oft gelobt und ist scheinbar ein Wert, der in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Trotzdem sind weltanschauliche Kräfte, die das Aussondern, das Abschotten bis hin zu unterschiedlicher Bewertung von Menschenleben propagieren, immer noch, oder besser: wieder sehr stark. Eine sich ändernde Welt erzeugt bei vielen Menschen Angst. Angst davor, abgehängt zu werden, Angst vor der Zukunft, Angst vor Veränderung. Angst jedoch ist kein guter Ratgeber, im Gegenteil wird sie oft missbraucht, um Menschen voneinander abzugrenzen.
Vernunft und Wissenschaft sagen uns, dass Veränderung die einzige Konstante und Diversität in der Natur lebenswichtig ist. Veränderung und Diversität zu akzeptieren, sie für sich fruchtbar zu machen, ist vernünftig, wenn auch manchmal strapazierend. Oft ist es aber nicht genug, eine Wahrheit gesagt zu bekommen. Besser ist es, sie aktiv zu erfahren. Kunst ist ein Weg, Dinge sinnlich und körperlich zu erleben – durch eigenes Tun und Experimentieren. Die Praxis der improvisierten Musik bietet ein ideales Feld für diese Art der Erfahrung. Wenn wir miteinander improvisieren, um in einen gemeinsamen Flow zu kommen und musikalisch Sinnvolles zu schaffen, braucht es diverse Kompetenzen: Zum einen muss man/frau die Fähigkeit haben, Ideen verbindlich und verständlich zu formulieren. Andererseits muss akzeptiert werden, dass jede Idee auch anders verstanden oder aufgefasst werden kann, als sie vom Sprechenden oder vom Spielenden intendiert war. Ideen können sogar ignoriert werden oder abgelehnt oder, im besten Fall, hinterfragt und re-formuliert. Keine Kommunikation kann vorher bis ins letzte Detail durchgeplant werden, auch und erst recht nicht die musikalische. Offenheit und Durchlässigkeit sind Grundvoraussetzungen aller menschlichen Interaktion. Die Diversität der Ideen, der Persönlichkeiten und der Klänge ist die Basis aller Musik.
Leider sind der Genuss und die Ausübung von Kunst und Musik immer noch ein Privileg von wenigen. Dies gilt ebenso für den Zugang zu Bildung in diesem Land, wie viele internationale Studien immer wieder belegt haben. Weil der Grundsatz »niemand ist frei, wenn nicht alle Menschen frei sind« gilt, sollten auch Bildung und Kunst ein Recht für alle sein. Alle Menschen sollten das gleiche Recht haben, zu spielen und spielend die Welt durch die Perspektive der Kunst immer wieder betrachten und neu befragen zu können. Dies ist keine Frage von Genre, von E oder U, von Hoch- oder Alltagskultur. Hip-Hop hat in diesem Sinne dieselbe Berechtigung, ja Notwendigkeit wie Kammermusik, Improvisation wie Komposition, groove wie rubato. Es geht um nichts weniger als Gleichberechtigung, Toleranz und Freiheit. Anders ausgedrückt: Inklusion, Diversität, Teilhabe. Das ist es, wofür »Jazz« steht. Und das ist es, wofür die Offene Jazz Haus Schule steht.