Vierzig Jahre Offene Jazz Haus Schule im Spannungsfeld von Offenheit und Solidität
Rainer Linke
Dieser Text ist Teil der Festschrift zum 40jährigen Jubiläum der Offenen Jazz Haus Schule im Jahr 2020. Die vollständige Festschrift als PDF-Datei kann hier abgerufen werden.
Mit der Gründung einer Schule reagierten wir – eine Handvoll Musiker aus dem Kreis der Initiative Kölner Jazz Haus – auf das gegen Ende der 1970er Jahre defizitäre Bildungsangebot im Bereich Jazz bzw. improvisierter und populärer Musik in Köln. Mit der neuen Schule sollte Abhilfe geschaffen werden. Als kreative Jazz Haus Musiker verfolgten wir alternative Ansätze der Musikvermittlung. Da uns neben Jazz Haus der Begriff Schule seinerzeit im Namen unvermeidlich schien, wurde der Anspruch, sich mit etwas Neuem gegen das Bestehende abzugrenzen, durch die Ergänzung »offen« signalisiert. Wir zeigten uns
- offen gegenüber der Diversität und Vielfalt der in Köln lebenden Menschen,
- offen gegenüber gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen,
- offen gegenüber dem Bedarf an musikalischer Bildung - egal, in welchen Altersgruppen oder in welchem sozialen Umfeld dieser Bedarf sichtbar wurde oder welche Bildungseinrichtungen ihn anmeldeten.
Für einen freien musikpädagogischen Träger sind dies alles Selbstverständlichkeiten, nicht jedoch für die traditionellen musikpädagogischen Bildungsträger zur Zeit der Gründungsphase der Offenen Jazz Haus Schule. Es fehlte die Bereitschaft, den sich rasant ändernden gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen innerhalb der bestehenden musikalischen Bildungseinrichtungen angemessen Rechnung zu tragen. Als Folge dessen gibt es heute in Köln mit der Offenen Jazz Haus Schule und der Rheinischen Musikschule zwei große musikpädagogische Bildungseinrichtungen. Mit einem jeweils deutlich ausgeprägten eigenen Profil richten sich beide Einrichtungen an ihre jeweiligen Zielgruppen und bilden in der Summe ein Alleinstellungsmerkmal der Stadt Köln. Politik und Stadtgesellschaft schätzen die Diversität der musikalischen Bildungsangebote – so unser Eindruck. Trotz alledem sind jedoch noch immer weiße Flecken in der musikalischen Bildungslandschaft und – im Vergleich zu anderen Städten – eine Unterversorgung an musikalischen Bildungsangeboten in Köln zu beklagen.
Offenheit in der pädagogischen Praxis der Jazzhausschule bedeutet grundlegende, strukturelle Offenheit. Weder die Teilnehmer noch die Dozenten sehen sich seitens der Institution Jazzhausschule verbindlich vorgeschriebenen, output-orientierten, standardisierten und leistungsaffinen Ansätzen wie Lehrplänen, Lehrwerken, Lernprogrammen oder Prüfungen ausgesetzt. Sie müssen weder selbst- noch fremdgesetzten Standards zu einer vorbestimmten Zeit genügen. Vielmehr bietet die innere Haltung, die die Protagonisten der Jazzhausschule mit Jazz und mit improvisierter und populärer Musik verbinden, Orientierung im pädagogischen und im musikalisch-künstlerischen Handeln. Musik wird selbstbestimmt, kreativ, künstlerisch, authentisch in Bands und anderen Ensembleformen sowie im persönlich-individuellen Instrumentalspiel gestaltet. Partizipatives, demokratisches und inklusives Handeln verstehen sich bei einer offenen Grundhaltung im Band- und im Ensemblespiel von selbst.
Offenheit, verstanden als »Öffnung von Bandpraxis«, lässt sich orientiert an den Ideen von Falko Peschel in verschiedenen Kategorien und Stufen beschreiben:
- Inhaltlich, indem die Bandmitglieder entscheiden, welche Musik gespielt wird oder indem sie kreativ ihre eigenen Songs schreiben und ihre eigene Musik gestalten;
- räumlich, indem der Proberaum »gesprengt« wird und die Bandmitglieder auf dem Flur oder im Nachbarraum in Kleingruppen selbständig arbeiten;
- zeitlich, indem die Bandmitglieder sich außerhalb der Jazzhausschule in privaten Räumen verabreden und selbständig proben;
- methodisch, indem die Bandmitglieder eigene Wege der Musikaneignung beschreiten;
- ästhetisch, indem die Bandmitglieder ihren eignen Erfahrungen Vertrauen schenken und sich von den Urteilen und Werten des Dozenten emanzipieren.
Gelingt es, die Bandpraxis in diesem Sinne zu öffnen, folgt sie zunehmend Regeln und Mustern mündlicher Überlieferung, gekennzeichnet durch Merkmale wie intrinsische Motivation, große Anteile autodidaktischen Lernens, Identifikation mit der gehörten und selbst gespielten Musik sowie mit dem eigenen Ensemble bzw. der eigenen Band.
Solidität heißt in diesem Kontext: Die musikalische Entwicklung sowohl in den Bands und Ensembles als auch im Instrumentalunterricht optimal voranzutreiben und keine Ziele, die für eine langfristige Entwicklung wesentlich sind, zu vernachlässigen, um damit allen Beteiligten die Wege ihrer jeweilig angestrebten Musik-»Karriere« offen zu halten und so für Nachhaltigkeit und Anschlussfähigkeit zu sorgen. Trotz aller strukturell und pädagogisch praktizierten Offenheit oder gerade deshalb sehen sich sowohl die Jazzhausschule als Institution als auch jeder einzelne Dozent in Hinblick auf die Solidität des Tuns in einer besonderen Verantwortung.
Damit stellt sich die Frage nach den Bedingungen für Solidität in einer Einrichtung, die auf Offenheit setzt, die auf Lehrpläne und Prüfungen verzichtet, die Heterogenität als Voraussetzung und nicht als Problem versteht und in der Ensembles sich als soziale Einheit erleben. Nachfolgend Antworten auf diese stets neu zu stellende Frage.
1. Qualifizierte Dozenten
Unverzichtbar sind sowohl künstlerisch als auch pädagogisch höchst qualifizierte Dozenten. Kunst und Pädagogik werden nicht als Widerspruch verstanden, sondern bedingen und stärken sich wechelseitig.
Die Dozentenliste der Jazzhausschule liest sich über weite Strecken wie das Who’s Who der Kölner Jazzszene. Nicht wenige wurden mit Preisen bedacht; ganz aktuell sind Elizabeth Coudoux und Tamara Lukasheva in die Exzellenzförderung des Landes NRW aufgenommen worden.
2. Professionelle Leitung, Organisation und Verwaltung
Unverzichtbar sind ein gut strukturiertes, nach allen Seiten offen kommunizierendes Management und ein leistungsfähiges, digitales Verwaltungsprogramm.
In enger, vertrauensvoller Zusammenarbeit tragen die Schulleitung, das Konzeptionsteam – engagierte, freiberuflich tätige Dozenten – und das Büroteam mit fest angestellten Mitarbeitern gemeinsam die Offene Jazz Haus Schule. Das Verwaltungsprogramm wurde eigens für die Zwecke der Offenen Jazz Haus Schule entwickelt.
3. »Reflective Practice« und konzeptionelle Entwicklung
Ein wesentliches Qualitätsmerkmal der Arbeit der Offenen Jazz Haus Schule ist die fortlaufende konzeptionelle Weiterentwicklung ihrer Angebote und Formate. Dabei geht es um die »reflective practice«, also die enge Verzahnung von gemeinsamer Begriffsbildung und Reflexion mit der Praxis konkreter Angebote in einem Prozess, im Laufe dessen künstlerisch-pädagogisches Handlungswissen fortlaufend hinterfragt und angereichert wird. Dieser Prozess verbessert nicht nur direkt die Angebote, sondern auch die Vermittelbarkeit von methodischen, didaktischen und pädagogischen Ansätzen und Prinzipien nach innen und außen. Darüber hinaus geht es darum, das komplexe Angebot und die inhaltlichen Schwerpunkte der Schule gezielt konzeptionell und strukturell zu entwickeln, neue Projekte zu konzipieren sowie zusätzliche Schnittstellen zu den Bereichen Hochschule, Forschung, Weiterbildung und Förderung zu erschließen und bestehende Synergien effektiv zu entfalten.
4. Weiterbildung und Dokumentation
Die Formate der Weiterbildung werden im Laufe der Jahre den sich ständig verändernden Anforderungen angepasst. Aktuell praktizierte Formate sind
- berufsbegleitende Weiterbildungen und Workshops wie im Jahresprogramm ausgeschrieben;
- interne Weiterbildung der Dozenten differenziert nach Tätigkeitsfeldern (JeKits, YoungsterBand, TeenBand, Instrumentalunterricht, soziokulturelle Projekte);
- »Round tables« zum freien Informationsaustausch der Dozenten untereinander;
- »Jazzhaus Einblicke«: Dokumentation und Veröffentlichung konzeptioneller Ansätze.
5. Jazzhaus Extras
Hier handelt es sich um Angebotsformate, die Anschlussfähigkeit bis hin zum Musikstudium ermöglichen, z. B. Wochenend- oder Ferienangebote wie YoungsterJazz, TeenJazz, MusikLabor oder Composers Lab. Diese Formate richten sich an ambitionierte Teilnehmer, die ein tiefergehendes Interesse an der Gestaltung von Musik haben, als es die »durchschnittlichen« Jazzhausschul-Teilnehmer*innen mitbringen. Junge Musiker*innen aus diesem Teilnehmerkreis haben in der Vergangenheit wiederholt erfolgreich am Landeswettbewerb »Jugend jazzt« teilgenommen.
6. Vorstudium Jazz
Im »Vorstudium Jazz« bereiten sich Teilnehmer über ein Jahr gezielt auf die Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule vor. Dieses Angebot wird seit über 20 Jahren erfolgreich von André Nendza geleitet. Von den jährlich 20 – 30 Teilnehmern bestehen ca. jeweils 80% die Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule.
7. Sommer- und Winterfestivals
Die öffentliche Präsentation von Ensembleergebnissen ist konzeptionell-integraler Bestandteil der Angebotspraxis. Hier begegnen die Ensembles, Teilnehmer*innen und Dozent*innen ihrem Publikum, tauschen sich aus und ermöglichen Einblicke in ihr Schaffen. Exemplarische Arbeitsergebnisse werden später in der Weiterbildung vorgestellt und gemeinsam reflektiert.
Die Begriffe Offenheit und Solidität stehen für Wertehaltungen, die sich nur bedingt tolerieren und in der Praxis leicht Spannungsfelder ausbilden. Der Jazzhausschule ist es gelungen, hier in konstruktiver Weise einen Ausgleich zu bewirken.
Dies belegen
- die bis heute wachsende Zahl an Teilnehmer*innen (über 5000) und Dozent*innen (ca. 200);
- die künstlerische und handwerkliche Qualität der Bands, Ensembles und individuellen Instrumentalist*innen und die zahlreichen Preise und Ehrungen der Teilnehmer*innen, der Dozent*innen und auch der Offenen Jazz Haus Schule als Institution;
- die erfolgreichen Biographien als Profimusiker*innen von ehemaligen Teilnehmer*innen der Jazzhausschule, darunter Esra Dalfidan, Hannah Köpf, Jakob Kühnemann, Joscha Oetz, Marius Peters, Simin Tander und zahlreiche weitere Musiker*innen.
Zum Schluss ein weiterer Aspekt von Offenheit und Solidität. Seit Beginn versteht sich die Offene Jazz Haus Schule als Plattform freischaffender Musiker der schier unerschöpflichen Kölner Szene. Von der Gründergeneration in den 1980er Jahren initiiert – namentlich zu nennen sind Joachim Ullrich, Dieter Manderscheid, Georg Ruby, Marianne Steffen-Wittek (später alle Professoren an deutschen Musikhochschulen) sowie Raimund Kroboth, Ulla Oster und meine Person, Rainer Linke -, exponierten sich in den 1990er Jahren vor allem Hip-Hop-Künstler wie Adé Bantu, DJ-Lifeforce, Fatih Cevikkollu und Kutlu Yurtseven mit spektakulären HipHop-Musicals, die sie gemeinsam mit jugendlichen Teilnehmer*innen entwickelten.
In den 2000er und 2010er Jahren tragen zunehmend Mitglieder des Konzeptionsteams zur Entwicklung der Offenen Jazz Haus Schule bei. Bereits genannt wurde André Nendza, der neben dem Vorstudium Jazz und JazzHaus-Extra-Formaten seit über 20 Jahren Ensembles und Workshops an der Offenen Jazz Haus Schule leitet. Zudem zu nennen sind Dr. Franz Kasper Krönig (seit 2018 Professor an der Technischen Hochschule Köln), Thorsten Neubert, Thomas Gläßer und Achim Tang.
Mit Modellprojekten wie dem Schulprofil Neue und Improvisierte Musik an der GGS Manderscheider Platz, KlangKörper, Sounds of Buchheim und Family Sounds tragen sie zur kulturellen Schulentwicklung und kulturellen Stadtteilentwicklung Kölns mit innovativer Kraft bei und gestalten die kommunale Bildungslandschaft Kölns maßgeblich mit.
Aktuell übernimmt die nächste Generation mit ihren Ideen und ihrer Energie das Feld: Kurt Fuhrmann, Nick Klapproth, Thanh Mai Susann Kieu, Johanna Melder, Sonja Mross, Joscha Oetz, Mischa Ruhr – um nur einige zu nennen – engagieren sich z. B. an 11 Kölner Grundschulen im Rahmen des JeKits-Programms des Landes NRW, und sie agieren zudem mit Formaten an Jugendeinrichtungen sowie im öffentlichen Raum und in der Arbeit mit geflüchteten Menschen.
Unter Federführung von Joscha Oetz entsteht seit dem Schuljahr 2019/20 das Schulprofil Experimentelle und Populäre Musik (SPEM) an der »igis«, der integrierten Gesamtschule Köln Innenstadt. Joscha Oetz ist seit nunmehr vier Jahren stellvertretender Leiter der Jazzhausschule und wird in diesem Sommer in die Leitungsposition wechseln.
Allen beteiligten Musiker*innen, allen Dozent*innen und Mitarbeiter*innen danke ich für ihr Engagement und ihre Arbeit an der Offenen Jazz Haus Schule. Mit größter Hochachtung erkenne ich ihre kreativen Leistungen an. Nur gemeinsam konnten wir die Offene Jazz Haus Schule in der heute bestehenden Qualität und Diversität entstehen lassen.
Und ganz zum Schluss ein Gedanke an unsere Teilnehmer*innen. Hoch motiviert, mit Vorwissen, individuellem Geschmack und persönlicher Prägung kommen sie zu uns. Unser oberstes Ziel ist und bleibt es, jedem Einzelnen gerecht zu werden und sein Interesse am Lernen und seine Freude am aktiven Musizieren zu unterstützen und zu steigern.