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Gendergerechtigkeit an der Offenen Jazz Haus Schule
Eine Einladung

Johanna Melder

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Die Jahre 2020/21 bringen die OJHS in eine radikal neue Situation - weitreichende Neuerungen innerhalb der Institution treffen auf die Herausforderungen einer globalen Krise. Wieso ergibt sich aus dieser Situation nun gerade jetzt die Chance zu einer kritischen Betrachtung der Strukturen und Prinzipien in Bezug auf Gendergerechtigkeit?

Tatsächlich verbinden sich Aufbruch und Problemstellung und eröffnen damit die Chance auf neue Perspektiven, Ideen und Wandel. Konkret bedeutet das: Die langjährige Arbeit von Rainer Linke und die damit verbundene Etablierung der OJHS führte in den Jahren 2020/2021 zu einer deutlich erhöhten Förderung durch die Stadt Köln. Diese Unterstützung ermöglicht unter anderem, in einer Zeit von unausweichlichem Stillstand Konzepte noch genauer zu reflektieren, neue Formate zu entwickeln und damit den Schwierigkeiten in der Distanz-Unterrichtspraxis mit Flexibilität zu begegnen. Zeitgleich fand die Übergabe der Schulleitung von Rainer Linke an Joscha Oetz statt und markiert einen Generationswechsel.

Diese schon länger absehbaren, gewünschten und erarbeiteten Veränderungen innerhalb des Kosmos OJHS trafen auf eine Welt, die sich ungleich schneller wandelte. Der Umgang mit Schließung, Digitalisierung und Hygiene-Maßnahmen stellte und stellt die Schule vor logistische Herausforderungen und scheint zunächst sämtliche Energien zu absorbieren.

Die Pandemie beschleunigt jedoch zeitgleich auch die grundlegende Wahrnehmung von Benachteiligungslagen im öffentlichen Diskurs. Auch das weit gedachte inklusive, partizipative und offene Selbstverständnis der OJHS wird einer kritischen Prüfung unterzogen. Eines der Themen, die sich aufdrängen, ist Gendergerechtigkeit.

Wieso untersucht dieser Text binäre Gender(miss-)verhältnisse und nicht einen weit gefassten Begriff von Inklusion und Teilhabe?

Die OJHS schafft Begegnungsorte, die sich weit über die Stadt Köln verteilen, und die Zusammensetzung der Schüler:innenschaft ist damit vielschichtigen gesamtgesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt. Kulturelle Bildung kann für (mehrfach) benachteiligte Personen schwerer zugänglich sein als für Personen, die gesellschaftliche Vorteile haben. Dies ist trotz großer Bemühungen innerhalb einer einzelnen Institution nicht komplett auszugleichen. Diese grundsätzliche Erkenntnis muss allen Überlegungen vorangestellt werden.

Der OJHS muss es ein Anliegen sein, möglichst vielen Benachteiligungslagen ausgleichend zu begegnen. Die Position, alle interessierten Personen mit der gleichen Offenheit zu empfangen, zeichnet viele Angebote aus. Der Inklusionsgedanke innerhalb der Schule ist weit gefasst und soll neben Menschen mit Behinderungen auch Menschen mit anderen Zugangsschwierigkeiten gerecht werden. Im Projektbereich werden niederschwellige und barrierefreie Ansätze für die Teilnehmenden regelmäßig reflektiert und nach Möglichkeit umgesetzt.

Diese Grundhaltung setzt sich auch im Kursbereich um und wird durch zahlreiche Fortbildungen und die offenen Bandangebote in die ganze Institution hineingetragen. So stellt sich die Frage, wieso es Bedarf gibt, ausgerechnet Gendergerechtigkeit an der OJHS genauer zu untersuchen und bei dieser Untersuchung nur die Verteilung von (zumindest vermeintlichen) cis-Frauen und cis-Männern zu betrachten.

Die OJHS ist eine Institution, die kulturelle Bildung für jede:n möglich zu machen sucht, die ihre offenen Ansätze seit Jahren reflektiert und umsetzt. Doch sie kann auch als eine Institution gelesen werden, in welcher hauptsächlich weiße, deutschsprachige, nicht behinderte, nicht migrantisierte, akademische und meist auch finanziell sicher gestellte Männer tonangebend sind.

Setzt man voraus, dass die männlichen Vertreter der OJHS sich ihrer Privilegien bewusst sind, kann man das grundlegende Bedürfnis nach Diversität und Offenheit durchaus verstehen. Dieser Wunsch birgt aber die Gefahr, beliebig zu bleiben, da er als Alibi-Strategie eingesetzt werden kann und die Möglichkeit birgt, sich nicht wirklich defizitär, selbstkritisch und letztlich auch lösungsorientiert mit der Sachlage auseinander zu setzten.

Wer die Bedürfnisse mitdenken möchte von unter anderem migrantisierten Menschen, Menschen mit unmittelbarer Einwanderungsgeschichte, Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Religionszugehörigkeit oder ihrer Behinderung benachteiligt werden, Menschen, welche rassistische Diskriminierung erleiden und Menschen in prekärer finanzieller Situation der braucht unzählige konkrete, vielschichtige, mehrsprachige, umgebungsplanerische und viele weitere Ansätze. Diese können in dieser Differenzierung nur aus vielfältigen Perspektiven erwachsen. Dieser Text richtet sich deshalb auf die Frage der Gendergerechtigkeit an der OJHS und kann als eine der ersten genaueren Maßnahmen verstanden werden.

Gender betrifft unabhängig von anderen Zuschreibungen jede:n und ist im machtkritischen Diskurs, vor allem wenn es um Mehrfachdiskriminierung geht, immer wieder ein aufreibendes Thema, welches große Aufmerksamkeit beansprucht. Die Einladung zur Ausdifferenzierung dieses Problems kann eine erste große Chance für alle Beteiligten sein. Ein geschärftes Problembewusstsein und daraus entwickelte Lösungsansätze können in Anteilen Strategien für andere Diversitätsprobleme bereithalten oder diese zumindest sichtbar machen. Dies wird deutlich, wenn man die in diesem Text analysierte Datenlage genauer betrachtet:

Die OJHS erhebt die Daten ihrer Schüler:innen. Neben dem Namen, der Adresse und anderen relevanten Daten zur Organisation des Unterrichtsangebots wird das Geschlecht der Teilnehmenden, unterschieden in männlich und weiblich, abgespeichert. Diese Datenlage ermöglicht einen Einblick in die binäre Geschlechterverteilung der Schüler:innenschaft, macht jedoch konkrete Angaben zu Teilnehmenden einer anderen Geschlechtsidentität unsichtbar.

Ebenso verhält es sich auch in Bezug auf andere Zuschreibungen und Gruppenzugehörigkeiten. Diese werden bei einer Datenerfassung nicht abgefragt, da sich weder Dozierende noch Teilnehmende gezwungen fühlen sollen, Angaben zu ihrem vermeintlichen Migrationshintergrund, ihrer Hautfarbe, ihrem Behinderungsgrad oder einer anderen privaten Information öffentlich zu machen und die Erfragung und Erfassung solcher Daten missbraucht werden kann. Somit reflektiert dieser Text die von den Verwaltungsangestellten gelesene Frauen- und Männerquote der Angebote mit ausreichender Datenlage. Schon dies macht offensichtlich, wie viel Bedarf es gibt, sich mit anderen Diversitätsaspekten in Zukunft mindestens ebenso ausführlich zu beschäftigen und Strukturen aufzubauen, welche diesen Diskurs kontinuierlich möglich machen.

Es gibt in Bezug auf Gendergerechtigkeit eine manchmal diffuse, an anderer Stelle aber auch klar ausformuliertee Wahrnehmung für eine Schieflage in der binären Geschlechterverteilung der Teilnehmenden und Dozierenden der OJHS. Die Perspektive von Menschen mit anderen, nonbinären oder Trans-Identitäten fehlt in diesem Diskurs bisher. Das äußert sich unter anderem in zwei Texten in der Festschrift zum 40 jährigen Geburtstag: Die Enge in der Offenheit: Irgendwas mit Frauen von Ulla Oster, Theresia Phillip, Kristina Brodersen und Angelika Niescier und abschnittsweise in Marianne Steffen-Witteks Text Geste und Groove-Embodiment.

Während Marianne Steffen-Wittek die Bereitschaft der Schule, sich mit Gendergerechtigkeit auseinanderzusetzen, anerkennt und herausstellt, dass der Anteil weiblicher Dozierender in den vielen Jahren ihres Bestehens kontinuierlich zunahm, tragen die Überlegungen im anderen Artikel eine Vielzahl von Gründen für die Benachteiligung von Frauen und Mädchen in der populären Musikkultur zusammen und postulieren nach wie vor einen großen Bedarf an Gleichstellungsmaßnahmen.

Auch der vorliegende Text resultiert aus meiner persönlichen Perspektive als weiße cis-Frau, Dozentin und Mitarbeiterin im Projektbereich und ist somit in der Reihe der genannten Stellungsnahmen eine weitere Dokumentation aus der Sicht der betroffenen Frauen, welche in den Foren der OJHS ein Sprachrohr bekommen.

Es ist in diesem Kontext unabdingbar, die Stimmen der bereits teilnehmenden und beschäftigten Frauen zu hören und ihre Expertise ernst zu nehmen. Werden Benachteiligungslagen nicht konkret analysiert, sensibel angesprochen und die benachteiligten Personen nicht sichtbar gemacht, so werden die Betroffenen nicht ernst genommen und eingebunden. Eine Untersuchung zu Gendergerechtigkeit ist derzeit der erfolgversprechendste Schritt zu mehr Diversität, denn Frauen mit Expertise – die gibt es an der Offen Jazz Haus Schule.

Für andere Perspektiven fehlen zur Zeit noch Beschäftigte, die diese praxisorientiert erklären und vermitteln und damit langfristig auf die Struktur einwirken können. Dennoch können Fortbildungen mit externen Spezialist:innen den Diskurs in vielfältige Richtungen öffnen und Räume für Menschen mit diversen Perspektiven vorbereiten. Im Folgenden wird es somit hauptsächlich um die Perspektive der als Frauen und Mädchen gelesenen Teilnehmenden und Dozierenden gehen; damit einhergehend strebt der Text eine grundlegende Sensibilisierung für die Wirkung von struktureller Benachteiligung an.

Eine Einladung: Fragen an mich, Fragen an Dich, Fragen an uns

Beim Schreiben dieses Textes begleiten mich unzählige Fragen. Fragen, die zum Teil unangenehm nahgehen, Fragen, die ich für mich mit großer Klarheit beantworten kann, Fragen, die diffus bleiben. Doch allem voran Fragen, die ich nicht allein beantworten möchte. Deswegen lade ich Dich, den Lesenden, an dieser Stelle zum Gedankenaustausch ein und werde Dich von nun an ab und zu direkt ansprechen.

Dieser Text soll Dich einladen, Dich mit Deiner persönlichen Perspektive im Bezug auf Gendergerechtigkeit an der OJHS auseinander zu setzen. Denn auch wenn hier vor allem weibliche Sichtweisen dargestellt werden sollen, bleiben diese ohne die Unterstützung Deiner Stimme, Haltung und Reflexion wirkungslos - unabhängig von Deiner Geschlechtsidentität und Deiner Position an der Schule.

Erste Fragen an Dich: Welche Gruppen werden durch Deine Angebote der OJHS erreicht?

  • Was sind Deine Zuschreibungen und Einteilungen für Kolleg:innen und Schüler:innen?
  • Grenzt Du sie im Bezug auf Geschlechtszugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Hautfarbe, kulturellen Hintergrund, Alter, Behinderung, Bildungsgrad, finanzielle Situation, Religionszugehörigkeit oder andere Merkmale ein?
  • Was sind Deine eigenen Begriffe für diese Gruppen?
  • Welcher der Begriffe geht Dir am nächsten und welchen Bezug hast Du gerade zu ihm?
  • Bei welchen Deiner Begriffe spürst Du inneren Abstand und welchen Bezug hast Du zu diesen „ferneren“ Begriffen im Alltag?

Welchen Rollenbildern folgst Du als Lehrer:in, Organisator:in?

  • Gibt es Attribute, die Du als typisch weiblich oder männlich betrachtest in Deiner professionellen Außendarstellung?
  • Welche dieser Attribute machen Dir besonders viel Spaß, wenn Du sie ausagierst?
  • Welche dieser Attribute sind für Dich schambehaftet?
  • Welche Zuschreibungen und Einteilungen findest Du für Dich, angelehnt an Deine zuvor entwickelten Begriffe?
  • Welche Zuschreibungen und Einteilungen werden von Kolleg:innen an Dich herangetragen?
  • Welche Zuschreibungen und Einteilungen werden von Schüler:innen an Dich herangetragen?

Wie divers ist dein Arbeitsumfeld und was ist dein Beitrag zu Diversität?

  • Mit wem entwickelst Du Deine Ideen?
  • Wer sind Deine direkten Ansprech- und Austauschpartner:innen?
  • Welche Zuschreibungen und Einteilungen lassen sich für diese Personen finden?
  • Wem widmest Du in Deiner Unterrichtspraxis/Organisationstätigkeit die meiste Aufmerksamkeit?
  • Welche Zuschreibungen und Einteilungen lassen sich für diese Personen finden?
  • Was ist Deine Motivation, Dich mit eben diesen Menschen besonders zu beschäftigen?
  • Spielen Deine Zuschreibungen und Einteilungen für Deine Motivation, Dich mit diesen Menschen zu beschäftigen, eine Rolle?
  • Könntest Du diese Zuschreibungen an Deine Schüler:innen und Kolleg:innen herantragen oder wäre das "irgendwie nicht in Ordnung"?
  • Welche Deiner Zuschreibungen sind nach genauerer Betrachtung gerechtfertigt und welche nicht?
  • Fändest Du es spannend oder anstrengend, wenn mehr Menschen mit anderen Perspektiven und Hintergründen an der OJHS wären, und was sind Deine Hoffnungen oder auch Ängste?

Zwischentöne - eine Einladung zum Erfahrungsaustausch

Unsere Berufspraxis als freischaffende Musiker:innen, Dozent:innen und selbstständig organisierende OJHS-Büromitarbeitende ist größtenteils eine Arbeit im eigenen Proberaum, ohne Kolleg:innen im Klassenzimmer oder mehr oder weniger allein am eigenen Rechner.

Diese macht für uns, anders als etwa bei Angestellten in einem Großraumbüro, strukturelle und institutionelle Probleme weniger sichtbar. Dennoch bewegen wir uns täglich, wenn auch über die ganze Stadt verteilt, in einem strukturierten Netzwerk. Jeder Anruf, jedes Jobangebot, jede Unterrichtstätigkeit ist von der Gunst anderer abhängig und nicht alle erhalten gleichermaßen Zugang.

Diese Sachlage verkompliziert den Erfahrungsaustausch zu strukturellen und institutionellen Problemen und macht es Kolleg:innen mit weniger Berührungspunkten schwer, neue Perspektiven kennen zu lernen. Dennoch ist die OJHS eine der geeignetsten Institutionen in Köln, wenn es darum geht, das Gespräch in dem hier angedachten Sinne zu öffnen, denn sie kann den zahlreichen Honorarkräften und Kulturschaffenden eine Austauschplattform bieten. Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Entwicklung hin zu diesen Gesprächen vorrangig von den Gesprächspartner:innen abhängig ist. Die Bereitstellung von sicheren Räumen und zugewandten Zuhörer:innen ist dafür unabdingbar. Die Hemmschwellen, alltägliche Diskriminierungserfahrungen, ausschließendes Verhalten und Barrieren in der Angebotsstruktur anzusprechen, können im Zusammenhang mit beruflicher Abhängigkeit oder als Schüler:in in Abhängigkeit zum Lehrenden enorm sein. Ebenso verhält es sich mit der Reflexion der eigenen Vorteile und Rollenbilder. Auch um diesen Dialog nachhaltig zu öffnen, braucht es eine aufmerksame, aber auch verzeihende Fehlerkultur.

Spricht man über binäre Gendergerechtigkeit in der populären Musikkultur mit anderen Musik- oder Musikkulturschaffenden, gibt es bei Betroffenen ein großes Bedürfnis, von eigenen Erfahrungen zu berichten. Diese Art von Gesprächen werden von vermeintlich objektiven Außenstehenden oftmals als zu persönlich wahrgenommen. Häufig wird dann z. B. angemerkt, dass diese Perspektive zu wenig zielführend ist. Die Erfahrungen der Betroffenen werden vereinzelt, relativiert oder in manchen Fällen sogar ganz abgesprochen. Tatsächlich spiegeln Erfahrungsberichte aber strukturelle und institutionelle Probleme und sind in ihrer Masse kein Einzelfall und damit nicht relativierbar. Für die Betroffenen sind diese Berichte ein erster Schritt zu mehr Sichtbarkeit, eine Chance, Unterstützung und Gehör bei anderen Betroffenen zu finden und damit ein mächtiges Instrument zu Empowerment und Solidarität. Gerade durch diese Berichte und den Austausch dazu lassen sich die Schwierigkeiten im System präzise lokalisieren und beheben.

Für den nächsten Abschnitt lade ich Dich ein, eine persönliche Erfahrung von mir zu lesen und Dir selbst im Nachhinein einige Fragen dazu zu stellen.

Ich bin 15 Jahre alt und sitze in meiner sehr kleinen, süddeutschen Geburtsstadt in einem kahlen Raum einer leeren Büroetage beim Gitarrenunterricht. Meine Finger haben dicke Hornhaut, und ich bin stolz darauf, denn ich habe geübt. In den letzten Wochen habe ich jeden Tag meine Zweifünfeinsen geschrubbt, pentatonisch improvisiert, funky Patterns gejammt und ich habe die Akkorde von Joy Denalanes Song „Sag's mir" tausendfach im Kreis gespielt und dazu gesungen.

Ich nehme seit ungefähr anderthalb Jahren Gitarrenunterricht und spiele wie wahrscheinlich die meisten sehr! musikbegeisterten Teenager mit wohlhabendem Elternhaus nur Gitarre, wenn ich Bock habe. Ich bin unstrukturiert und übe nicht wirklich, sondern zocke und träume, starre aus dem Fenster, schreibe Songs und lerne nebenbei jeden Tag, mit mir selbst ganz gute Musik zu machen.

Mein Gitarrenlehrer ist ein kumpeliger Typ, ich erzähle ihm von meinem Liebeskummer und zeige ihm Musik, die ich mag. Er hört in den Unterrichtstunden vor allem Songs für mich raus, improvisiert mit mir und telefoniert ausgedehnt mit seiner Freundin. An dem Tag, als ich ihm den Joy-Denalane-Song zum ersten Mal mit Gesang präsentiere, gehe ich überglücklich nach Hause. Denn mein Lehrer hat mir von der Möglichkeit erzählt, Musik zu studieren und Musikerin zu werden. Mit der Gitarre ginge das nicht, da wäre ich ja nicht gut genug, aber ich hätte so eine schöne Stimme, und Sängerin könnte ich bestimmt werden.

Ich fühlte mich merkwürdigerweise unglaublich wertgeschätzt und war von diesem Moment an voller Träume. Mit der Gitarre habe ich dann nach ein paar Monaten aufgehört, denn ich habe ja angefangen, Hooks für einen der Rapper an meiner Schule einzusingen.

Fragen an Dich:

  • Kannst Du meine Freude nach der Stunde nachempfinden?
  • Findest Du die Aussage des Gitarrenlehrers problematisch – und wenn ja, was genau ist daran nicht in Ordnung?
  • Suchst Du nach Gründen, um die Position des Gitarrenlehrers zu verstehen oder zu rechtfertigen?
  • Welche Rolle spielten Identifikationsfiguren für mich in dieser Geschichte?
  • Welche Rolle spielten Identifikationsfiguren für meinen Lehrer in dieser Geschichte?
  • Hätte der Lehrer seine Ansage für mich gewinnbringender formulieren können?
  • Hättest Du als Schüler:in Deinen erwachsenen Bezugspersonen problemorientiert von diesem Gespräch berichtet?
  • Hätten Deine Bezugspersonen das Gespräch mit dem Lehrer gesucht?
  • Was waren die unterstützenden eye-opening Momente in Deiner eigenen (musikalischen) Biografie, und von wem kamen welche Impulse?
  • Hast oder hattest Du einen vergleichbaren Moment in Deiner Lehr- oder Organisationstätigkeit im Bezug darauf, Schüler:innen Perspektiven aufzuzeigen, und wie bist Du gegenüber Deinen Schüler:innen damit umgegangen?
  • Wie schätzt Du die Identifikationsmöglichkeiten Deiner Schüler:innen in Bezug auf Rollenbilder in Deinem Unterricht, Deiner Organisationstätigkeit ein?

Öffnung der Strukturen – Identifikationsfiguren

Das Bedürfnis nach einer diversen Teilnehmendenschaft ergibt sich innerhalb der OJHS aus den zahlreichen Förderungen der Angebote der OJHS. Die Förderer der Schule verbinden ihre Unterstützung mit gesellschaftspolitischen Forderungen und wollen diese von der OJHS umgesetzt wissen.

Die Umwälzung von gesellschaftlichen Teilhabe-Problemen auf kulturelle Bildungseinrichtungen im Rahmen mäßig verstetigter und auch immer wieder fraglicher Projektfinanzierung kann problematische Folgen für alle Beteiligten haben. Konkret bedeutet das, dass Arbeitskraft, Zeit und finanzielle Mittel in bürokratische Prozesse investiert werden müssen, die deswegen z. B. für Diversitätsmaßnahmen schlichtweg fehlen können.

Dennoch konnte und kann die OJHS mit langfristigen und eigenen Mitteln ihren Diversitätsanspruch immer weiter ausbauen. Eine Schlüsselfunktion können Identifikationsfiguren in allen Ebenen der Schule sein. Diese Personen bewusst einzustellen und auch einzusetzen, ist ein langfristiger Prozess.

Dieser Prozess muss von Anfang an nachhaltig und breit gedacht werden. In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig zu betonen, dass es kein Ziel sein sollte, einzelne Personen als Diversität-Aushängeschilder einzustellen und ihnen alleine die Bearbeitung dieser Themen zu übertragen. Neben dem Interesse an einer diversen Teilnehmendenschaft und tatsächlicher Teilhabe möglichst aller gesellschaftlichen Gruppen an den Unterrichtsangeboten möchte ich auch daran appellieren, auf allen professionellen Ebenen Gleichstellung umzusetzen – unabhängig von den Auswirkungen auf die Teilnehmendenschaft.

Offene Jazz Haus Schule konkret – Statistik

Wie steht es denn nun aber tatsächlich um die Gendergerechtigkeit an der OJHS, neben den bereits genannten Einschätzungen und Blickwinkeln?

Ich möchte im Folgenden ein paar Zahlen und Zusammenhänge darstellen, um die Geschlechterverteilung quantitativ zu untersuchen. Ich erhoffe mir davon, gemeinsam mit Dir auf eine Spurensuche zu gehen. Zum Teil kann es sich um das Auffinden von Spurenelementen handeln, die eine äußerst differenzierte Betrachtung notwendig machen. Dieser Aufgabe kann und will ich in diesem Text nicht gerecht werden; dazu bedarf es der Expertise einer Vielzahl von Personen.

Die Daten zu den vorliegenden Statistiken entstammen einer Datenabfrage vom April 2021. Die Auswahl der für die Statistik ausgewählten Angebote richtete sich nach den vorliegenden Daten in der internen Datenbank der OJHS. So ist zum Beispiel der große Bereich Soziokultur in dieser Darstellung nicht berücksichtigt, da sich die Datenlage in den Projekten mehrheitlich nicht personenbezogen erfassen lässt. Es handelt sich bei diesen Angeboten häufig um niedrigschwellige Workshops, Pop-Ups und Offene Treffs, für welche die Teilnehmenden keine Anmeldung benötigen und damit auch nicht einzeln erfasst werden.

Da ich es als zentrales Element betrachte, nicht nur Teilnehmende, sondern auch Dozierende in den Blick zu nehmen, wird der Geschlechterverteilung der Teilnehmenden in den folgenden Grafiken häufig die der Dozierenden gegenüber gestellt.

Binäre Geschlechterverteilung Gesamt

Geschlechterverteilung Gesamt

Blickt man auf die Verteilung bei den Teilnehmenden, gibt es in dieser allgemeinen Betrachtung zunächst Grund zur Freude. Mit 44,6% weiblichen und 55,5% männlichen Teilnehmenden zeigt sich zwar ein leichter Überhang bei Männern bzw. Jungen – mit über 10% Unterschied zwischen den Gruppen ist dieser nicht völlig nebensächlich –, aber man nähert sich dennoch einer 50/50-Verteilung an. Das ist vor allem im direkten Vergleich mit der Verteilung innerhalb der Dozierendenschaft auffällig. Der Grafik ist zu entnehmen, dass 24,7% Frauen und 75,3% Männer in den genannten Bereichen unterrichten. In welchem Vergleich steht die OJHS damit zum Beispiel im Hinblick auf die vom Bund beschlossene Quote für börsennotierte Unternehmen?

Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg erklärt:
"Im März 2015 hat der Bundestag das ‚Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im Öffentlichen Dienst‘ beschlossen. Es legt eine Quote von mindestens 30 Prozent Frauen in Aufsichtsräten voll mitbestimmungspflichtiger und börsennotierter Unternehmen fest, die ab dem Jahr 2016 neu besetzt wurden. Aktuell treffen diese beiden Kriterien auf 105 deutsche Firmen zu. (...) Noch 2015 bekundete der Bundestag, bis 2018 solle eine Fünfzigprozentquote für Frauen in Aufsichtsräten angestrebt werden, um tatsächlich Geschlechterparität zu schaffen. Passiert ist seither nichts – es blieb bei der folgenlosen Absichtsbekundung."

Frage an Dich:

  • Welche Quote wünscht Du Dir für die OJHS in der Dozierendenschaft, unabhängig von Deiner persönlichen Einschätzung der Machbarkeit, aber für Dein praktisches Arbeitsumfeld?

Verteilungsschlüssel Geschlecht-Dozierende auf Teilnehmende

Hier soll untersucht werden, ob Frauen und Männer im Durchschnitt eine ähnliche Anzahl von Schüler:innen unterrichten. In der genauen Analyse stellt sich eine kleine Abweichung zur vorhergehenden Grafik zugunsten der Männer dar: Ein Dozent unterrichtet im Schnitt 13 Schüler, eine Dozentin im Schnitt nur 11,5. Dies ist zunächst kein großer Unterschied, aber er verringert die Sichtbarkeit von weiblichen Dozierenden für die Teilnehmenden noch einmal mehr. Außerdem bedeuten weniger Schüler:innen für die Dozentinnen unter Umständen, je nach unterrichtetem Angebot, weniger Honorar. Gerade im Gruppenunterricht und der dort praktizierten Honorarstaffelung nach Schüler:innenanzahl könnte dies ein nicht ganz zu vernachlässigender Faktor sein.

Die Gründe für diesen Unterschied können vielfältige Ursachen haben; hier sollen nur einige skizziert werden. Der Fakt, dass Frauen auch noch heute häufiger unbezahlte Sorgearbeit für Angehörige leisten als Männer und deswegen täglich weniger Stunden ihrer bezahlten Arbeit nachgehen, spielt hier eventuell eine Rolle. Ebenso könnten interne Absprachen in dem ohnehin schon männlich geprägten Kollegenkreis die Einbindung in neu entstehende Angebote unter Männern fördern. Ein weiterer Grund könnte in den Unterrichts-Schwerpunkten der Frauen liegen. Engagieren sich die weiblichen Dozierenden beispielsweise hauptsächlich im Einzelunterricht, so erreichen sie in der Summe weniger Schüler:innen als im Band-Unterricht, bei JeKits oder anderen Großgruppen-Angeboten.

Ob sich diese leichte Schieflage also tatsächlich in der Arbeitszeit und im Honorar niederschlägt, kann vorerst nicht abschließend beantwortet werden. Um dies wirklich zu untersuchen, müssten die Honorarzahlungen der Dozent:innen statistisch überprüft werden.

Fragen an Dich:

  • Welche Faktoren spielen eine Rolle für Dich bei der Auswahl oder Vergabe Deiner Unterrichtsangebote, und wie viel Schüler:innen erreichst du?
  • Spielen die hier dargestellten Faktoren eine Rolle bei Deinen Entscheidungen? Gehst Du davon aus, diese Faktoren würden anders wirken, hättest Du eine andere Geschlechtszugehörigkeit?
  • Spielen andere gesellschaftliche Faktoren und/oder Gruppenzugehörigkeiten eine Rolle bei Deinen Entscheidungen?

Binäre Geschlechterverteilung in den unterschiedlichen Altersgruppen

Im nächsten Schritt soll zunächst die binäre Geschlechterverteilung der Teilnehmenden innerhalb einiger Altersgruppen analysiert werden. Auch hier wird die Verteilung von Frauen und Männern unter den Dozierenden mit betrachtet. Die Altersgruppen wurden nach den Angebotsformen der OJHS unterteilt und bilden deswegen nicht punktgenau das tatsächliche Alter der Teilnehmenden ab. So wird für das Alter von 8 Monaten bis 6 Jahren musikalische Früherziehung angeboten, bei welcher die Teilnehmenden gelegentlich auch etwas älter sein können.

Ebenso verhält es sich mit der nächsten Altersstufe der 6 bis 10jährigen, welche JeKits, Youngsterband, Gruppen- und Einzelunterricht und Workshops besuchen. Auch in der Altersgruppe der 10 bis 18jährigen überlappt sich das Alter der Teilnehmenden von Gruppen- und Einzelunterricht, Teenband, Breakdance und Workshops. Erwachsene Teilnehmende ab 18 Jahren nehmen am Gruppen- und Einzelunterricht sowie an Bands, Vorstudium, Fortbildungen und Workshops teil und können gelegentlich auch etwas jünger sein.

Um die Anteile der festgelegten Altersgruppen am gesamten Unterrichtsgeschehen einordnen zu können, zeigt sich in der folgenden Grafik, wie viele Teilnehmende in den jeweiligen Angebotsgruppen unterrichtet werden.

Verteilungsschlüssel Altersgruppen Teilnehmende auf Teilnehmende gesamt

Der Bereich der musikalischen Früherziehung ist mit 3,9% der kleinste, gefolgt von den Angeboten für Teenager mit 25,4%. Erwachsene stellen mit 32,6% die zweitgrößte Gruppe, und Grundschulkinder sind mit 38,1% die größte Gruppe an der OJHS. Diese Gewichtung bei der Betrachtung der Altersgruppen präsent zu haben, ist wichtig, um die Strukturen zu verstehen, welche auf die Teilnehmenden auch im Bezug auf ihre Geschlechtszugehörigkeit wirken.

Angebote für Kleinkinder und Kindergartenkinder

Geschlechterverteilung Altersgruppe 8 Monate - 6 Jahre

Im kleinsten Bereich, bei den Angeboten für Schüler:innen von acht Monaten bis sechs Jahren, zeigt sich eine Tendenz zu mehr Mädchen bei den Teilnehmenden. Sie sind mit 58,4% vertreten, Jungen nur mit 41,6%.
In der Studie zu Wirkungen und Voraussetzungen der musikalischen Früherziehung, des Verbands deutscher Musikschulen, welche 205 Kinder an 18 öffentlichem Musikschulen über zwei Jahre begleitete, stellt sich eine ähnliche Verschiebung von ca. 60% zu 40 % dar. Außerdem wurde in diesem Rahmen herausgefunden, dass sich Angebote für Jungen häufiger dem Instrumentenbau widmen, während bei Mädchen größeren Wert auf das Erfahren über den Körper und das Einbeziehen vieler Ausdrucksmedien gelegt wird.
Die Gründe für diese Verschiebung kann und möchte ich hier nicht aufschlüsseln, sondern dazu braucht es eine tiefgehende Analyse von den Dozierenden in diesem Bereich. Sie verfügen über den direkten Kontakt zu den Kindern und Eltern und könnten durch ihre wissenschaftliche Expertise in der Elementaren Musikpädagogik ein präzises Bild aufzeigen. Gerade hier ist es unerlässlich, den eigenen Unterricht im Bezug auf Zuschreibungen dauerhaft zu reflektieren und einen Dialog dazu anzuregen.
Trotzdem möchte ich die Frage aufwerfen, ob sich die oben genannte Präferenz in der Musizierpraxis weit bis in den erwachsenen Amateur-, Semiprofessionellen- und Professionellen-Bereich verfestigen könnte und ob dieser Umstand Mädchen, langfristig gesehen, in der Quantität (und damit in der öffentlichen Wahrnehmung) erstaunlicherweise benachteiligen könnte.

Fragen an dich:

  • Wurdest du als kleines Kind ermutigt zu singen und zu tanzen?
  • Hast du das Gefühl, deine gelesene Geschlechtsidentität hat dazu geführt, dass dir Zugänge zu deinem körperlichen Ausdruck schon früh verwehrt wurden?
  • Hast du das Gefühl, deine gelesene Geschlechtsidentität hat dazu geführt, dass dir Zugänge zu handwerklichen und planerischen Tätigkeiten verwehrt wurden?
  • Spürst du heute Scham beim Singen und Tanzen?
  • Nutzt du heute Singen und Tanzen, um dich sozial zu inszenieren?
  • Stellst du heute durch Singen und Tanzen Wohlgefühl in dir her?
  • Singst und tanzt du heute vor allem wegen der Erwartungshaltung anderer?
  • Beobachtest du bei Personen einer anderen Geschlechtszugehörigkeit größere oder kleinere Berührungsängste mit direktem musischem-körperlichem Ausdruck und wenn ja, welche Folgen hat dieser Unterschied für deine Beziehung zu diesen Menschen?
  • Wirken auf deine Sing- und Tanzerfahrungen andere gesellschaftliche Faktoren als das Geschlecht ein? (Wie zum Beispiel Zuschreibungen aufgrund deiner Hautfarbe, deiner Behinderung, deines kulturelles Hintergrundes)

Wendet man sich nun der Geschlechterverteilung bei den Dozierenden zu, sieht man einen eindeutigen Vorsprung bei den Frauen, welche mit drei Frauen und einem Mann insgesamt jedoch einen eher kleinen Teil der Dozierenden an der OJHS ausmachen. Die Lehrkräfteverteilung in der o. g. Studie zeichnet ein ähnliches Bild. Man darf davon ausgehen, dass auch mit dieser kleinen Gruppe Dozierender ein allgemeiner Trend abgebildet wird.

Hier scheint es also eher Bedarf zu geben, mehr männliche Identifikationsfiguren einzusetzen. Ein Problem, welches sich gesamtgesellschaftlich breit darstellt, betrachtet man die Geschlechterverteilung von Beschäftigten in Kitas und ähnlichen Einrichtungen, sowie die der Lehrkräfte an Grundschulen. Mädchen und Jungen bekommen durch die radikale Schieflage in diesen Berufen dauerhaft das Bild vermittelt, dass sich Frauen um sie kümmern, während Männer dafür nicht vorgesehen sind. Damit entstehen Prägungen, die Jungen und Mädchen langfristig gleichermaßen beeinflussen und Geschlechterparität von Anfang an behindern.

Möchte die OJHS diesem enormen gesellschaftlichen Druck etwas entgegen setzen, so muss sowohl der Unterricht als auch die Beschäftigten-Struktur immer wieder kritisch hinterfragt werden, denn trotz des relativ geringen Anteils dieser Angebotsgruppe am Unterrichtsgeschehen kann hier ein elementarer Beitrag zum langfristigen Wandel der Strukturen geleistet werden.

Angebote für Kinder im Grundschulalter

Geschlechterverteilung Altersgruppe 6-10 Jahre

Grundschüler:innen bilden in den untersuchten Altersgruppen mit 45,9% Mädchen und 54,1% Jungen eine auf den ersten Blick relativ ausgeglichene Gruppe. Die Zahlen entsprechen der Verteilung in der vorangegangenen Gesamtbetrachtung. 

Auf den ersten Blick ist es umso erstaunlicher, dass nur 19% Frauen, aber 81% Männer in diesem Bereich unterrichten. Zur Erinnerung: In der Gesamtstatistik sind es rund 25% weibliche und 75% männliche Dozierende.
Hat die geringere Anzahl weiblicher Identifikationsfiguren in dieser Gruppe keinen Effekt auf die Teilnehmenden? In diesem Fall bedarf es der genaueren Betrachtung der einzelnen Angebote, um die Gründe zu verstehen. Dazu werden im folgenden stichprobenartig die Angebote JeKits und Youngsterband untersucht.

Geschlechterverteilung Youngsterband

Betrachtet man die Youngsterband, so kommt man auf ein überraschend anderes Ergebnis als in der allgemeinen Grundschulstatistik. Hier nehmen nur 34,8% Mädchen, aber 65,2 % Jungen teil. Die Verteilung der Dozierenden weist eine noch eindeutigere Gewichtung auf mit 15 Männern und 2 Frauen, sprich 11,8% Frauen und 88,2% Männern.

Es stellt sich die Frage, was Jungen besonders anregt, bei Youngsterbands teilzunehmen und wie man der enormen Schieflage unter den Dozierenden begegnen kann. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass unzählige Youngsterband-Angebote in Grundschulen mit Anbindung an andere Programme, wie zum Beispiel JeKits oder Einzelunterricht stattfinden und über diese Angebotsbreite theoretisch alle Kinder angesprochen werden könnten.

Wieso beginnen gerade Jungen vermehrt mit der Youngsterband? Ein Grund könnte die plötzliche Präsenz von Männern im Grundschulbereich sein; unter den sonst meist weiblichen Lehrkräften im sonstigen Unterrichtsgeschehen fehlen diese Identifikationsfiguren den Jungen häufig.

Die Bewerbung des Angebots „Band“ könnte gerade für Jungen eine Anziehungskraft ausüben, da auch heute weiter Rollenbilder von männlichen, Schlagzeug und E-Gitarre spielenden Rockstars tradiert werden.
Da das Youngsterband-Angebot aber meistens nach Bedarf erweitert wird und somit durch die rege Teilnahme der Jungen keine Plätze für Mädchen wegfallen, gilt es vor allem Tools zu entwickeln, welche Mädchen bessere Identifikationsräume im Bandkontext schaffen.
Auch dazu braucht es, ähnlich wie in der musikalischen Früherziehung, die Expertise der bereits praktizierenden Dozent:innen und eine kritische Auseinandersetzung mit den Dozent:innen-Besetzungen und ihrer Unterrichtspraxis im Bezug auf Zuschreibungen und Rollenbilder

Eine werbewirksame Änderung der Bezeichnung des Angebots und eine zugehörige, passende Bildsprache für bestimmte Zielgruppen oder Pilotprojekte könnte eine Strategie sein, mehr Mädchen für die Youngsterbands zu begeistern. Tatsächliche, strukturell verankerte Safe-Space-Angebote für interessierte Band-Musikerinnen im Grundschulalter an vielen Grundschulen möglich zu machen, wäre ein weiterer Ansatz Dies ist in der Mädchenarbeit eine seit vielen Jahren erfolgreich praktizierte Strategie und sollte an dieser Stelle unbedingt in Betracht gezogen werden

Außerdem könnte es aufschlussreich sein, die jungen Teilnehmerinnen des Einzelunterrichts und ihre Beteiligung an Bands in diesem Zusammenhang genauer zu betrachten, da durch die jungen- und männerlastige Ausrichtung der Youngsterbands Einzelschülerinnen dort keinen Anschluss suchen oder ihnen kein Anschluss aufgezeigt werden könnte. Eine genaue Untersuchung des Einzelunterrichts folgt deswegen später.

Wie steht es nun aber um JeKits? JeKits-Unterricht erfolgt im ersten Jahr im Klassenverband und ist damit für alle Kinder verpflichtend. Im zweiten JeKits-Jahr entscheiden sich die Kinder freiwillig, weiter am Programm teilzunehmen. Im Folgenden werden also die Daten der JeKits Kinder im zweiten Jahr analysiert.

Geschlechterverteilung JeKits

Bei der Übersicht über alle musikalischen JeKits-Angebote ohne Tanz sieht man im Vergleich zur Youngsterband einen großen Zuwachs bei den teilnehmenden Mädchen, welcher mit 54,3% Anteil den der Jungen mit 45,7% übersteigt. Auch bei den Dozierenden vergrößert sich die Anzahl der Frauen auf 31,6%, während die Männer „nur“ noch mit 68,4% vertreten sind. Dazu ist es unumgänglich, das JeKits-Angebot genauer zu untersuchen. JeKits gibt es, neben dem Bereich Tanz, welcher hier nicht mitbetrachtet wird, in den zwei Ausprägungen Instrumente und Vokallabor. Stellt man diese beiden Unterrichtskonzepte gegenüber, lassen sich interessante Schlüsse ziehen.

Geschlechterverteilung JeKits Vokallabor

Geschlechterverteilung JeKits Instruments

Zunächst ist es offensichtlich, dass das Gesangsangebot große Einwirkung auf die mädchenlastige Gesamtstatistik hat und den Frauenanteil bei den Dozierenden ein wenig ausgleicht. Dafür ist es noch wichtig zu bemerken, dass im JeKits Vokallabor insgesamt vier Dozentinnen und ein Dozent 139 Schüler:innen unterrichten, während bei JeKits-Instrumente 14 Dozent:innen 207 Schüler:innen unterrichten. Das entspricht im Fall vom Vokallabor einem Verhältnis von 27,8 Schüler:innen pro Dozierendem und bei JeKits-Instrumente einem Verhältnis von 14,9 Schüler:innen pro Dozierendem.

Betrachtet man nur die Instrumentengruppe, so zeigt sich erfreulicherweise eine fast gleichgestellte Aufteilung von 47,8% teilnehmenden Mädchen zu 52,2% teilnehmenden Jungen. Die Männerlastigkeit unter den Dozierenden ist aber gerade in dieser Gruppe umso höher mit zwölf Männern und zwei Frauen.

Somit zeigen sich im Fall von JeKits zwei interessante Entwicklungsmöglichkeiten: Zunächst scheinen Mädchen, anders als bei der Youngsterband, begeistert am Instrumentalangebot teilzunehmen, sobald sie durch die vorgegebene Priorisierung der Instrumentalpraxis im ersten Jahr Zugang erhalten haben. Die vorwiegend männlichen Dozenten sind in diesem Fall kein signifikanter Hinderungsgrund für eine weitere Anmeldung.

Zum anderen legt das mädchenlastige Vokallabor nahe, dass exkludierende Faktoren für Jungen im Gesamtkontext JeKits die größere Rolle spielen und sich damit die Erkenntnisse aus der musikalischen Früherziehung verstetigen. Dies wird vor allem deutlich, wenn man sich klarmacht, dass es an Vokallabor-Schulen nicht die Möglichkeit gibt, auch am Instrumental-JeKits teilzunehmen und damit an diesen Schulen weniger Jungen vom JeKits-Programm profitieren.

Es wäre dringend zu überlegen, ob man durch eine schul-, bzw. kursübergreifende Durchmischung der Dozierenden und Angebote im Laufe eines Schuljahres diese Muster aufbrechen könnte. Dies könnte in Form von Tandem-Projekten, Lehrerwechseln oder Projekttagen gezielt verfolgt werden. Schließlich sollte der schon unzählige Male geforderte Austausch unter den Dozierenden zum Thema Singen bzw. Orchesterleitung konkret und möglicherweise verpflichtend praktiziert werden, und zwar auch und gerade unter dem Gesichtspunkt Gleichstellungsmaßnahmen mit dem erklärten Ziel, vor allem Jungen diversere Rollenbilder vorzuleben.

Anhand dieser Analyse der zwei Angebote Youngsterband und JeKits für Grundschulkinder zeigt sich, wie vielfältig die bestehenden Strukturen auf die Zugangsmöglichkeiten wirken und wie wohlüberlegt diesen Bedingungen begegnet werden muss. Die Gründe wie auch die vorgeschlagenen Verbesserungsmaßnahmen haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sollen dazu anregen, sich noch genauer mit der Thematik auseinander zu setzen.

Angebote für Jugendliche

Die bisher betrachteten Altersgruppen haben, mit Ausnahme der Youngsterband, die Tendenz aufgezeigt, dass mehr Mädchen an den Angeboten teilnehmen. Tatsächlich interessant wird es jedoch bei der Betrachtung der Angebote für Jugendliche, denn hier kippt dieser Trend plötzlich.

Geschlechterverteilung 10-18 Jahre

Hier sind die teilnehmenden Mädchen plötzlich nur noch mit 31,6% vertreten, und die teilnehmenden Jungen bilden den weitaus größeren Anteil mit 68,4%. Diese Zahlen entsprechen in etwa denen der Youngsterband. Bei den Dozierenden gibt es im Vergleich mit der Altersgruppe der Grundschüler einen leichten Zuwachs bei den Frauen mit 22% und eine leichte Abnahme bei den Männern mit 78%. Dies könnte durch das Interesse an Gesangsunterricht in der Altersgruppe der Teenager und die Häufung von weiblichen Gesangsdozierenden bedingt sein.

Wieso kippt aber nun gerade hier die Geschlechterverteilung bei den Teilnehmenden so signifikant? Ein Grund im Vergleich mit der vorangegangenen Altersgruppe könnte das Wegfallen von JeKits sein. In dieser Altersgruppe gibt es so gut wie keine größeren Gruppen-Angebote mit Schwerpunkt Gesang. Die bisherige Tendenz zu mehr Mädchen in den Angeboten war aber eng verknüpft mit am Singen ausgerichteten Inhalten. Die Anzahl an erreichten Schüler:innen durch ein Vokallabor kann mit vermehrtem Einzelunterricht Gesang nicht komplett begegnet werden.

Neu in dieser Altersgruppe ist das Angebot Breakdance, das ausschließlich männliche Teilnehmende erreicht. Im Gegensatz zu den vorangegangen Tanz-Angeboten ist Breakdance auch heute noch vor allem athletisch und männlich konnotiert und nimmt damit im Bezug auf Identifikationsmöglichkeiten für Männlichkeit im Tanz eine spezielle Rolle ein.

Hier wird deutlich, wie die gesellschaftlich praktizierte Zuschreibung „Mädchen – Gesang“ langfristig exkludierend wirken kann. Neben einer verbesserten Fortführung von Chor-, Tanz- und Stimmbildungsgruppen für Teenager muss es vor allem ein Anliegen sein, die Mädchen früher in die Bandangebote einzubinden, denn unsere Musikkultur ist, neben einer großen, aber mehrheitlich unkommerziellen Chorkultur, keine welchen unzählbaren weiblichen Solo-Sängerinnen ein professionelles, lebensunterhaltendes oder auch "nur" bereicherndes Umfeld bieten kann.

Angebote für Erwachsene

Wie etabliert sich die Verteilung im Bereich der allmählichen Professionalisierung? Die OJHS kooperiert eng mit der Hochschule für Musik und Tanz Köln. So richtet sich das Vorstudium der OJHS an Anwärter:innen eines Jazz-Studiengangs an einer Musikhochschule.
Neben Teilnehmenden dieses Angebots mit dem klaren Berufswunsch Musiker:in nehmen auch Personen teil, welche nicht zwingend professionell als Musiker:in arbeiten wollen, aber auf einem guten Level musizieren können und wollen. Dieses Angebot möchte ich besonders analysieren, da es dasjenige mit dem direktesten Bezug zum professionellen Bereich ist.

Geschlechterverteilung Vorstudium

Die Anteile weiblicher Teilnehmender mit 31,7% und männlicher mit 68,3% entsprechen ziemlich genau denen in der Gesamtgruppe der 10-18jährigen. Der zuvor beschriebene Trend scheint sich also tatsächlich auf die Gender-Struktur der professionell tätigen Musiker:innen auszuwirken. Betrachtet man die Entwicklung der Statistik bis zu dieser Altersgruppe, so ist es im Bereich des Vorstudiums zu spät, mehr junge Frauen für ein Musikstudium zu begeistern.
In diesem Angebot unterrichten jedoch genau ein Drittel Frauen und zwei Drittel Männer! Damit ist das Vorstudium das Wirkungsfeld mit der größten prozentualen Beteiligung von Frauen im Kontext von Instrumental-Praxis in dieser Untersuchung. Die Gründe für diesen Unterschied in der Verteilung der Dozierenden sollten in Bezug auf das Angebot Vorstudium von den Dozierenden und Organisierenden hinterfragt werden, da sich ggfs. hieraus Strategien für andere Angebote ableiten ließen. Es könnte allerdings auch eine Rolle spielen, dass die besondere Gewichtung bei hochkarätigen weiblichen Dozierenden mit den Barrieren zu tun hat, welche Frauen begegnen, die Instrumental-Professorin oder Dozentin an einer deutschen Musikhochschule werden wollen. Damit zusammenhängend könnten sich erfolgreiche Frauen besonders in der professionelleren Erwachsenenbildung etablieren.

Bei den Dozierenden aller Erwachsenenangebote liegt der Frauenanteil bei 22,9% und derjenige der Männer bei 77,1%. Nach den Angeboten im Bereich 8 Monate bis 6 Jahre ist bei der hier betrachteten Altersgruppe also der höchste Anteil von Dozentinnen zu beobachten. Auch hier liegt die Annahme nahe, dass gesellschaftlich bedingte, aber auch Szene-typische Karriere-Nachteile für professionelle (Jazz-)Musikerinnen eine Rolle beim verstärkten Unterrichten an einer Institution wie der OJHS spielen.

Geschlechterverteilung Erwachsene

Bei den erwachsenen Teilnehmenden werden insgesamt wieder ähnlich viele Menschen erreicht wie im Grundschulalter, und hier gleicht sich die Verteilung von weiblichen und männlichen Teilnehmenden wieder an. Tatsächlich ist hier die größte Annäherung an Geschlechterparität mit 46,1% Frauen und 53,9% Männern zu beobachten. Um zu verstehen, warum sich die Zahl der teilnehmenden Frauen hier signifikant erhöht, lohnt es sich, die zahlreichen Chor- und Stimmbildungsangebote für diese Altersgruppe zu betrachten.

Geschlechterverteilung Chor

Die Chorangebote für Erwachsene sind mit 82,7% Frauen und 17,3% Männern die Angebote mit der größten weiblichen Teilnehmendenschaft und beeinflussen die Gesamtstatistik im Erwachsenenbereich. Umso erstaunlicher ist es, dass hier nur 28,6% Frauen, aber 71,4% Männer unterrichten. Das Konzept von männlcihen Vorbildern scheint sich bei Erwachsenen nicht auf die Teilnehmenden auszuwirken und so bleibt die Frage offen, wieso gerade hier die zahlreichen gut ausgebildeten Gesangsdozentinnen nicht von den finanziellen Vorteilen einer Chorleitung profitieren.

Betrachtet man nur die Erwachsenen-Bands als Angebotsgruppe, so zeigt sich wieder, dass hier mehr Männer (61,3%) als Frauen (38,7%) teilnehmen. Die Zahl der weiblichen Teilnehmenden ist hier jedoch dennoch höher als beispielsweise bei der Youngsterband. Auch der Anteil der Frauen unter den Dozierenden liegt mit 26,3% noch höher als in der Gesamtstatistik der Erwachsenenangebote.

Geschlechterverteilung Erwachsenenbands

Einzelunterricht und Bands

Die bisherige Datenlage stellt dar, dass Mädchen und Frauen vor allem an Gesangsangeboten teilnehmen, während Jungen und Männer häufiger Instrumente spielen. Wie wirkt sich das konkret auf den Instrumental- bzw. Gesangsunterricht aus? Dazu möchte ich abschließend noch einige Einzel- und Gruppenunterrichtsfächer besonders besprechen.

Saxophon:

47,6 % aller Saxophonspieler sind Frauen und Mädchen. An den Bands nehmen 45% Saxophonistinnen teil. Bandangebote sind also für Saxophonistinnen gut zugänglich. Mit 30% weiblichen Dozierenden ist Saxophon außerdem das hier untersuchte Instrumentalfach mit der größten Annäherung an Geschlechterparität.

Klavier:

Mit 52,8% Klavierschülerinnen gibt es hier mehr weibliche Teilnehmende am Einzel- und Gruppenunterricht als in jedem anderen untersuchten Instrumentalfach. Dennoch nehmen an Bands nur 32,8% Pianistinnen teil. Auch die Verteilung unter den Dozierenden ist mit nur 16,1% Frauen stark im Ungleichgewicht.

Gitarre:

Gitarrenunterricht nehmen nur noch zu 30% Mädchen und Frauen in Anspruch.
In einer Band spielen nur noch 15,3% Mädchen und Frauen Gitarre, und mit nur 10,5% ist der Anteil weiblicher Dozierender noch geringer als bei den vorgenannten Instrumenten.

Schlagzeug:

Schlagzeugunterricht nehmen nur zu 11,3% Mädchen und Frauen. In Bands sinkt der Anteil der Schlagzeugerinnen weiter auf nur 4,3%, und mit 6,3% weiblicher Dozierender, also genauer einer Frau unter 15 Männern, liegt der Anteil so niedrig wie bei keinem anderen untersuchten Instrument.

Gesang:

Einzig im Bereich Einzel- und Gruppenunterricht Gesang nehmen mit 75% überdurchschnittlich viele Mädchen und Frauen teil. In Bands werden Mädchen und Frauen mit 81,6% sogar noch häufiger Sängerin als Jungen und Männer. Die Dozierenden sind zu 81,8% Frauen.

Die zuvor aufgeworfene Frage, ob Mädchen weniger Anschluss an eine Band finden, obwohl sie Unterricht am Instrument nehmen, kann somit in allen Fällen außer Gesang klar mit einem Ja beantwortet werden. Welche Faktoren hierfür die Ursache sind, muss im Gespräch mit allen Band- und Instrumental-Lehrer:innen beantwortet werden.

Die statistische Untersuchung zeigt:

  • Nur wenige Jungen und Männer singen.
  • Mädchen und Frauen singen zu einem sehr großen Anteil.
  • Instrumente werden hauptsächlich von Jungen und Männern gespielt.
  • Mädchen und Frauen spielen seltener Instrumente.
  • Der Zugang zu Bandangeboten und männlich konnotierten Instrumenten ist für Mädchen und Frauen schwer, wenn sie nicht über ein Programm wie JeKits abgeholt werden.
  • Die langfristige Verstetigung dieser Aufteilung exkludiert musikschaffende Frauen vom Arbeitsmarkt.
  • Hoch qualifizierte Musikerinnen geben in den Bereichen Gesang, Erwachsenenbildung und Musikalische Früherziehung Impulse, aber sind im Grundschulbereich am wenigsten stark vertreten.

Einblicke und Ausblicke

Du hast es bis hierher geschafft! Wie geht es Dir?

Diese Zahlen so ausgebreitet zu sehen, verursachte bei mir beim Schreiben Schweißausbrüche, Wut, Abgeklärtheit und Überforderung und manchmal ein kleines, leises Aber in meinem Kopf. Wo beginnen und wo aufhören? Wie gewichten? Was möchte ich tun, was kann ich tun und wo ergibt es Sinn, etwas zu tun?

Betrachtet man diese Zusammenfassung, könnten kritische Stimmen sagen, dass diese grundsätzliche Interessenverteilung in der Schüler:innenschaft noch keine Teilhabe-Maßnahmen für Mädchen und Frauen rechtfertigt. Die Statistik liefert doch keine direkten Beweise, dass Mädchen von Lehrenden oder Organisierenden ausgeschlossen werden! Für mich zeigt die Statistik jedoch zwei Dinge auf, die dieses Argument zwingend entkräften:

Zunächst ist da der Fakt, dass beim JeKits Instrumentalangebot eine große Annäherung an Geschlechterparität zu beobachten ist. Mädchen wollen Instrumente spielen, wenn man sie lässt. Jungen jedoch wollen nicht zwingend singen, wenn man sie lässt. Wieso ist das so?

Eine sehr bedenkenswerte Antwort dazu kann aus einem Bild kommen, welches die Schwarze intersektionale Feministin Natasha A. Kelly in ihrer Keynote bei der Burning Issues - Performing Arts & Equality Konferenz im Herbst 2020 in Hamburg zeichnete. Sie sagte: "weiße Feministinnen [hingegen] begeben sich auf eine einspurige Straße und fahren dem weißen Mann hinterher." Dieses kurze, aber klare Bild verdeutlicht ein Problem, das vor allem durch die intersektionale Perspektive deutlich werden kann. Natasha A. Kellys Keynote hieß Wie kann weißer Feminismus Teil der intersektionalen Debatte werden. Sie beschreibt darin den Vorteil weißer Feministinnen, Rassismus ausblenden zu können, und zeigt dabei auf, welche Strategien weiße Frauen wählen, um weißen Männern gleichberechtigt begegnen zu können. Das Hinterherfahren, welches ihr, aus ihrer Position als mehrfach diskriminierte Frau, auf der Straßenkreuzung zwischen Rassismus und Sexismus deutlich sichtbar wird, ist ein gängiges Verhaltensmuster für weiße Mädchen und Frauen, um in einer Männer-dominierten Welt zu bestehen. Es ist zwingend notwendig auch schon Kindern im Grundschulalter ein sehr sensibles Gespür für die eigene Gruppenzugehörigkeit und äußere Zuschreibungen zuzugestehen. So können sich Mädchen von dem Erlernen eines Instrumentes ein "Upgrade" versprechen, während Jungen beim begeisterten Mitsingen im JeKits Unterricht tendenziell ausgelacht werden und ein "Downgrade" erfahren.

In diesem Zusammenhang kann es eine Strategie von migrantisierten und rassifizierten Schülern sein, das Attribut Männlichkeit zu betonen und damit ihrer Diskriminierungserfahrung etwas entgegen zu stellen. Der Umstand, dass es Präferenzen innerhalb der Gruppen der Mädchen und Jungen gibt, gründet in dieser Sichtweise also nicht einer frei gewählten Interessenlage, sondern ist das Produkt einer Struktur, die in unterschiedlichen Ausprägungen und Spielarten sowohl Mädchen als auch Jungen in ihrer Selbstverwirklichung hemmt

Der zweite Punkt, welcher für eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Thema Gendergerechtigkeit spricht, wird durch die Statistik unmittelbar belegt. Mädchen und Frauen nehmen, oberflächlich betrachtet, in einer fast gleich großen Anzahl in verschiedenen Phasen ihres Lebens an musikalischer Bildung teil wie Jungen und Männer. Die erlangten Kompetenzen führen aber immer noch mehrheitlich bei Männern zum Beruf Musiker. Männer können somit häufiger ihr gelerntes Wissen vermarkten und Geld damit verdienen. Die Repräsentation von Frauen ist daher in der medialen Öffentlichkeit immer noch verschwindend gering, und Mädchen haben zu wenig positive und empowernde Vorbilder in der breiten Musikkultur. So läuft dieser Kreislauf vermeintlich fröhlich weiter. Wer kann etwas dagegen tun, wenn nicht eine große kulturelle Bildungseinrichtung wie die OJHS?

Wo beginnen und wo aufhören?

  • Was ist dein größter Wirkungsbereich an der OJHS?
  • Wie kannst und möchtest Du Dich in diesem Themenfeld vernetzen?
  • Welche Ressourcen wünscht Du von der Leitungs- und Organisationsebene dafür bereitgestellt zu bekommen?
  • Auf welche Strukturen hast Du konkret in Deiner Arbeit Einfluss?
  • Wie und mit wem möchtest Du Deine Ideen dazu teilen und verbreiten?

Anregungen, Einladungen, Forderungen

Anders als in meinem persönlichen Erfahrungsbericht mit meinem Gitarrenlehrer stellt die bearbeitete Statistik keine Sammlung von ausschließendem Verhalten innerhalb der OJHS dar, sondern untersucht den quantitativen Ist-Zustand. Der Grund für das statistisch belegbare Ungleichgewicht wird hoffentlich selten in vorsätzlich diskriminierendem Verhalten der Beschäftigten zu finden sein. Wahrscheinlicher ist es, dass vor allem die unbewusste Weitergabe von Rollenbildern, eine unreflektierte Praxis, das Nicht-Thematisieren der Zuschreibungen für Teilnehmende sowie die fehlenden Ausgleichsstrategien in der Angebotsstruktur Probleme aufwerfen und Tendenzen verstärken. Deswegen schlage ich im Folgenden einen ersten Maßnahmen-Katalog vor:

1. Arbeitsgruppe Diversität

Im Zuge der Überlegungen zu diesem Text hat sich eine Arbeitsgruppe Diversität gegründet, welche die verschiedenen Perspektiven, Probleme und Lösungsansätze innerhalb der OJHS gemeinsam betrachtet. Ziel ist zum einen eine klare Positionsfindung, zum anderen die Entwicklung eines realisierbaren Maßnahmen-Katalogs aus der Breite der Dozierendenschaft und des Büroteams.
Gendergerechtigkeit wird in diesem Zusammenhang eine prägende Rolle spielen, andere Diversitätsaspekte sollen nach Möglichkeit mitgedacht werden. Wie bereits oben beschrieben, könnten die fehlenden Perspektiven dazu diesen Prozess aber zunächst beeinträchtigen und speziell dafür muss mit großem Engagement an der Umsetzung gearbeitet werden.

2. Fortbildungsreihe

Die Erkenntnisse aus diesem Text und die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Diversität müssen in die Breite der Dozierendenschaft und der Organisierenden getragen werden. Dazu bietet sich eine Fortbildungsreihe innerhalb der Round Tables, der JeKits- und Youngsterband-Fortbildungen, im Rahmen der Akademie und in internen Weiterbildungen für das Büroteam an. Dazu wäre es zwingend nötig, externe Expert:innen mit diversen Perspektiven einzuladen.

3. Quoten

Die OJHS muss sich verpflichten, eine realisierbare und dennoch herausfordende Quote an weiblichen (Instrumental-)Dozierenden bei Neuanstellungen einzuhalten.

4. Nachhaltige Strukturen für Diversität schaffen

Es braucht eine institutionell verankerte Qualitätssicherung für Diversität. Diese muss sich im Kontext der OJHS an speziell damit beauftragten Personen festmachen. Ein zentraler Bestandteil der Arbeit dieser Personen muss es sein, unabhängige Ansprechpartner:innen für alle Dozierenden und Teilnehmenden zu sein und dies breit zu kommunizieren. Dies ist für eine Institution dieser Größe, welche Einzelunterricht dezentral bei den Dozierenden stattfinden lässt, auch zu bedenken im Kontext von Präventionsmaßnahmen zu jeglichem übergriffigem Verhalten.

Ein weiteres Arbeitsfeld sollte die Organisation von Fortbildungen zum Thema Diversität und die Vernetzung innerhalb und außerhalb der OJHS im Hinblick auf Diversität sein.

5. Digitalisierung und Gender

Im Zuge der Digitalisierungsmaßnahmen muss die Datenabfrage bei den Teilnehmenden und Dozierenden die statistische Erhebung von nicht binären Geschlechtsidentitäten möglich machen.
Für weitere Erkenntnisse und eine stetige Qualitätssicherung zu den Themen Gendergerechtigkeit, aber auch zu anderen Gleichstellungsfragen wäre es möglich, ein Online-Tool zu entwicklen, das Teilnehmenden die Möglichkeit gibt, die besuchten Angebote nach einem Fragenkatalog zu bewerten. Die Dozierenden bekämen so wertvolles und ungefiltertes Feedback. Die Befragung müsste anonym ablaufen, und die Leitungsebene dürfte keine Möglichkeit haben die Daten einzusehen. Dieser Vorschlag soll keine Überwachungskultur etablieren, aber könnte kritisches Feedback an die Dozierenden ermöglichen und den Teilnehmenden mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten bieten.

6. Überprüfung der Außendarstellung und Werbung

Die Präsentation aller Angebote muss kritisch überprüft werden. Wo sind die Angebote auffindbar? Welche Zugangsschwierigkeiten werden berücksichtigt? Welche Bilder sprechen wen an? Welche Sprache spricht wen an? Welche Orte werden bespielt? Welche Vernetzungsmöglichkeiten gibt es?

7. Research Ensemble

Um sich Fragen wie Was ist Weiblichkeit, Männlichkeit, Macht und Struktur auch künstlerisch zu nähern, könnte in den unterschiedlichen künstlerischen Begegnungs- und Fortbildungsformaten angeregt werden, sich im Rahmen von musikalischer und tänzerischer Arbeit mit der Sichtbarmachung dieser Themen auseinander zu setzen. Ein künstlerischer Dialog dazu könnte vor allem für die Arbeit mit den Teilnehmenden interessante praktische Ansätze generieren.

8. Wandlung der Angebotsstruktur

Safe-Space Angebote für Mädchen müssen wieder in das feste Repertoire der OJHS! In diesem Kontext ist es unabdingbar, Werbestrategien zu reflektieren und zu verbessern, um mehr Mädchen für den Bandunterricht zu begeistern.
Tandem-Unterricht von weiblichen und männlichen Dozierenden sollte in allen Angebotsformen nach Möglichkeit umgesetzt werden.
Eine Gesangsschülerin sollte beispielsweise einmal im Monat Unterricht bei einem Instrumentallehrer erhalten. Nicht zwingend, um das jeweilige Instrument zu lernen, sondern um an anderen Aspekten ihrer Musikalität zu arbeiten. Auch Instrumental-Schüler:innen könnten umgekehrt von diesem Ansatz profitieren. Doch vor allem würden die Dozierenden angeregt, sich mit ihren unterschiedlichen Gewichtungen und Perspektiven auseinander zu setzen. Dazu könnten Dozierenden-Duos, beispielsweise innerhalb eines Stadtteils, gebildet werden.
Auch in den Bereichen JeKits, Youngsterband und Soziokultur sollten die Teilnehmenden durch eine institutionelle Vorgabe von verschiedenen Dozierenden, am Besten mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten, unterrichtet werden.Im Bereich Soziokultur können weiterhin verstärkt Begegnungsangebote, die Gender thematisieren, umgesetzt werden.
Weiterführende Begegnungsangebote könnten sich idealerweise an alle bisher erreichten Personen richten. So kann dieser Ansatz, wie die bisherige Praxis zeigt, beispielsweise in der Arbeit mit Geflüchteten relevant sein, in einem Stadtteilorchester besprochen werden oder Thema eines Youngsterband-Songs sein.

Ganz schön viel Arbeit!
Utopie?
Na klar?
Aber auch ganz konkret, spannend und irgendwie auch machbar. Kann ja noch ein bisschen dauern. Zum Abschluss möchte ich Dir noch einen kleines Hoffnungsbonbon mit auf den Weg geben: Dieser Text konnte entstehen, trotz Homeoffice alleine mit Kind, trotz aller beschriebenen Strukturen und Gitarrenlehrer, aufgrund der Gesprächsbereitschaft und der Expertise von unzähligen Frauen, Männern, Mädchen, Jungen und Menschen mit vielfältigen Geschlechtsidentitäten.

Johanna Melder

Johanna Melder, geboren 1988, studierte Jazz Gesang an der Musikhochschule Köln. Sie unterrichtet schon seit des Studiums an Musikschulen und privat, leitet Workshops und arbeitet als Lehrerin mit Menschen allen Altersgruppen. Johanna Melder unterrichtet und musiziert in den Bereichen musikalische Früherziehung, Erwachsenen-Chorleitung, Songwriting und Stimmbildung und ist Autorin eines Kindermusicals. Als Songwriterin und Sängerin hat sie Konzerte mit eigenen Pop, Soul und Hiphop Songs in ganz Deutschland und ihre Stimme ist auf zahlreichen Studio- und Live- Produktionen zu hören.