„Sounds of Buchheim“ digital
Projektdokumentation über das soziokulturelle Stadtteilprojekt in Köln-Buchheim während der Corona-Pandemie
Nick Frederick Klapproth
0. Ausgangslage
Die vorliegende Dokumentation behandelt die digitalen Projektaktivitäten der Offenen Jazz Haus Schule Köln im Projekt „Sounds of Buchheim“ (SOB) während der Entwicklungen der Corona-Pandemie in den Jahren 2020-2022. Ein großer Teil der beschriebenen Initiativen stand dabei im Zusammenhang mit dem von der Stiftung Wohlfahrtspflege geförderten Projekt „SOB-Digital“.
Die ursprüngliche Idee des Projekts „SOB-Digital“ war, mit verschiedenen Formaten, Anwendungen und Plattformen eine inhaltliche Ergänzung zur langjährig etablierten, soziokulturellen Stadtteilarbeit anzubieten. Während jedoch zu bestimmten Zeitpunkten der Pandemie keine Präsenzangebote mehr stattfinden konnten, musste in den Monaten Januar bis Mai des Jahres 2021 vollständig auf „virtuelle Angebote“ ausgewichen werden. Die Module wurden an die sich stets verändernden Dynamiken angepasst, wiederum andere haben entgegen der ursprünglichen Erwartungen nicht funktioniert und wurden deshalb eingestellt. Letzten Endes wurde im Projekt deutlich, dass musikalische (Gruppen-) Prozesse, wie sie SOB seit jeher im Sinn hat, nicht ohne Präsenzformate auskommen. Ihren Zweck erfüllen die digitalen Angebots-Formate nur, wenn sie in Wechselbeziehung zu den Präsenzangeboten stehen und die Prozesse dort unterstützen. Heute verstehen sich die digitalen Aktivitäten rund um SOB als Erweiterung des gleichnamigen Projekts. Zu keiner Zeit, auch nicht während der sogenannten Lockdowns, konnte davon ausgegangen werden, dass die Online-Module als vollständiger Ersatz des kreativen und improvisierenden Live-Musizierens in Gruppen hätten herhalten können, auch wenn sie das zeitweise mussten. Auch ist in dieser Dokumentation von Prozessen die Rede, die auf den ersten Blick keine „digitale“ Projektarbeit beinhalten, jedoch im inhaltlichen wie zeitlichen Zusammenhang mit dem Projekt „SOB- Digital“ stehen. Bis zur Pandemie ist „Sounds of Buchheim“ vollständig ohne digitale Erweiterungen ausgekommen. So wurde vor dem Frühjahr 2020 auch nicht über eine – wie auch immer gedachte – Digitalisierung der eigenen, kulturellen Arbeit nachgedacht.
Es steht außer Frage, dass etwa begleitende Videotutorials, Clouds zum Materialaustausch oder die Verfügung über niederschwellige Tools auf Smartphones und Tablets etc. für das Fortkommen in gemeinsamen, kreativen Prozessen mit Vorteilen auftrumpfen können. Kern des Projektes ist immer gewesen, einen echten und vor allem analogen, unmittelbar erfahrbaren Begegnungsraum zu schaffen, in welchem sich Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft als kreative und musizierende Bürger*innen eines Stadtteils wahrnehmen und begegnen können. So lebte das Projekt stets von einer großen, diversen, sehr starken und zuverlässigen Community in Buchheim und teilweise auch über Buchheims Grenzen hinaus. Mit „Community“ ist in diesem Zusammenhang die Gruppe von Menschen gemeint, die in einem bestimmten Stadtteil leben, gemeinsame Interessen verfolgen oder aufgrund sozialer Merkmale miteinander in Beziehung stehen. Das Projekt in Buchheim arbeitet seit über zehn Jahren an genau diesem Ansatz: Teilnehmer*innen des Projekts schätzen daran neben der einfachen Tatsache, musikalisch aktiv zu werden, dass „Sounds of Buchheim“ für sie die Möglichkeit bereithält, „Teil eines großen Ganzen“[1] zu sein: Die Teilnehmenden nehmen sich selbst als Mitglieder einer besonderen und einzigartigen Community wahr. Der zentrale Ansatz von SOB lautete während der Pandemie noch drängender, musikalische und kreative Gruppenprozesse im Stadtteil anzuregen und hierdurch eine Verbesserung der Lebenswelt der beteiligten Bürger*innen anzustreben. Mit der Corona-Pandemie und den durch die Behörden verhängten Lockdowns in den Jahren 2020/2021 waren gemeinsame Prozesse jedoch plötzlich nicht mehr in Präsenz möglich. Der Kontakt zu den Teilnehmenden, die sonst die Orchesterproben, die offenen Musikräume, Bands und Instrumentalgruppen besuchten, riss zuerst vollständig ab. Noch vor der Inszenierung musikalischer Gruppenprozesse ohne persönliche Begegnungen war es dem Projektteam ein großes Anliegen, die Kontakte zu den Teilnehmenden aufrecht zu erhalten. Der Aufruf zur sozialen Distanzierung hält für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Familien weitreichende psychosoziale Folgen bereit. Soziale Distanzierung äußerte sich vor allem in der Schließung nahezu aller für das soziale Leben relevanter Einrichtungen wie Schulen, Jugendzentren, Gemeindehäuser usw. Mit der Schließung dieser Orte verschließen sich auch die wesentlichen o. g. Räume für soziale Interaktionen und gemeinsame Prozesse. Diese konnten und können – nach Ansicht des Projektteams – nicht vollständig ruhen und später ohne Weiteres wieder aufgenommen werden.
1. Reaktion auf den Lockdown: Handynummer, Musikstreifen und gemeinsames Balkon-Konzert
Ab Januar 2021 wurde mit digitalen und analogen Formaten experimentiert, die zum Ziel hatten, den Kontakt zu den Teilnehmenden aufrecht zu erhalten sowie musikalische Gruppenprozesse unter den gegebenen Bedingungen vorzubereiten. Bis zum ersten Lockdown fand der über Jahre aufgebaute und stabilisierte Kontakt zwischen Teilnehmenden und Dozierenden auf der direkten, persönlichen Ebene während der Angebotszeiten statt. Die Teilnehmenden konnten sich auf ein festes Team von Musiker*innen verlassen und wussten um die regelmäßigen und kontinuierlich über mehrere Wochentage verteilten Angebote. Damit zumindest die Gewissheit des gemeinsamen Kontakts weiter bestehen konnte und um weiter niedrigschwellig kommunikationsfähig zu bleiben, wurde eine SOB-Handynummer eingerichtet, über die die Teilnehmer*innen unkompliziert mit den Dozent*innen kommunizieren, Material einschicken oder Infos zu neuen Angeboten erhalten konnten. Noch heute ist das Handy von SOB aktiv und für Teilnehmende des Projekts geöffnet.
Ebenfalls als unmittelbare Reaktion auf die erneuten Schließungen wurden in den ersten Monaten des Jahres 2021 sogenannte Balkonkonzerte organisiert. Um mit kleinen Live-Konzerten im Sozialraum den Kontakt zu den Bewohner*innen zu stärken und Präsenz auch in sozial-distanzierten Zeiten zu zeigen, haben sich Musiker*innen mit Teilnehmer*innen aus dem Projekt zusammengetan und ein kurzes Set entwickelt, das sie an zentralen Plätzen des Sozialraums in Buchheim präsentierten. Die Konzerte wurden in enger Abstimmung und Kooperation mit der Sozialraumkoordination und der Stadt durchgeführt und von den Bewohner*innen des Stadtteils bestens aufgenommen.
Zudem gab es Anfang des Jahres 2021 sogenannte Musikstreifen, die von jeweils zwei Dozierenden unter der Woche unternommen wurden: Ebenfalls mit dem Ziel, Kontakte zu Bewohner*innen zu knüpfen und sie auf die digitalen Angebote aufmerksam zu machen, zogen Musiker*innen des Projektteams durch den Stadtteil, spielten kurze Sets vor Häusern von Teilnehmenden, kamen kurz mit Passant*innen ins Gespräch und luden zur Teilnahme an den digitalen Alternativangeboten ein. Hierbei wurden Flyer mit QR-Codes verteilt, über deren Links sich schnell auf die digitalen Angebote auf Instagram und YouTube zugreifen ließ.
2. Musikalische Gruppenprozesse aufrechterhalten / auf neuer Ebene in Gang setzen
Das Projektteam unternahm schon in den ersten Tagen des erneuten, dieses Mal absehbar längeren Lockdowns Versuche, die Teilnehmenden auch inmitten der Pandemie zur eigenen Kreativität und zur Mitarbeit an der gemeinsamen Musik zu motivieren. Teilnehmende sollten innerhalb der digitalen Angebote möglichst eigene Musik erfinden. Einfache Tutorials, die zum Nachspielen oder Üben animieren, sind nicht im Sinne von „Sounds of Buchheim“. Ein großes Anliegen des Projektes ist immer gewesen, nicht vermittelnd vorzugehen, indem das Dozent*innenteam Kompetenzen oder Techniken „beibringt“. Im Gegenteil stand immer die gemeinsame Suche nach Wegen im Mittelpunkt, Musik gemeinsam entstehen zu lassen, Sounds, Klänge und ganze Stücke zu entwickeln und zu inszenieren. Das Team strebte eine möglichst intensive Wechselseitigkeit der Aktivitäten zwischen Teilnehmer*innen und Dozent*innenteam an. Erste Videos, die von den Dozierenden veröffentlicht wurden, enthielten deshalb hauptsächlich Aufrufe und kurze Anleitungen, zuhause auf Alltagsgegenständen, bspw. Küchengeräten, zu musizieren, sich dabei aufzunehmen und das Material einzuschicken.
So entstanden relativ schnell sogenannte „Schnipselsongs“: Diese Songs bestanden aus jeweils 2-3 eingesandten Schnipseln, die entweder mit Instrumenten oder mit Heimgegenständen aufgenommen und über das SOB-Handy gesammelt wurden. Anschließend wurde daraus im Studio der Musiker*innen ein fertiges Stück arrangiert und produziert, welches im besten Fall die einzelnen Schnipsel der Teilnehmer*innen in den Mittelpunkt stellte und so für sie ein interessantes Musikstück für zuhause bereithielt. Im Verlauf des Lockdowns entstand so eine breite, vielseitige Playlist mit insgesamt zwanzig Schnipselsongs mit Schnipseln von über zwanzig Teilnehmenden[2]. Die letzten Schnipselsongs wurden im Sommer 2021 im Offenen Musikraum des Don Bosco Clubs vorbereitet. Ähnlich verhielt es sich mit einer Reihe von Reels auf Instagram, die unter dem Titel „NUF‘s-Grooves“[3] konkretere Groove-Aufgaben stellten. Die Grooves wiederum wurden dann von Teilnehmer*innen eingeschickt oder live in den jeweiligen Zweigstellen von ihnen eingespielt. Zusammen ergaben sie einen NUF-Song[4], der ebenfalls auf YouTube und Instagram zu vorab angekündigten Zeiten veröffentlicht wurde.
Insgesamt wurden viele verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, interaktives, gemeinsames Musizieren über die NUF-Kanäle zu ermöglichen. Letzten Endes zeigte sich jedoch mit der Zeit und der zunehmenden Möglichkeit, in Präsenz zu musizieren, dass die Teilnehmenden die Präsenzangebote nach und nach den digitalen Angeboten vorzogen. Wichtiger als letztere in der Form zu erhalten erschien es dem Projektteam weiterhin, in teilnehmer*innenzentrierten Formaten zu arbeiten. Ein weiteres Format nannte sich „Musikinterviews“ und sah völlig vom Konzept eines Songs ab. Hier sollten die Teilnehmer*innen mit ihren spontanen, improvisatorischen, aber ästhetisch bedeutsamen Musiken eine Interviewsituation vertonen. Auf ihren Instrumenten antworteten sie auf Fragen wie „Wie geht es Dir?“ oder „Was nimmst Du aus der Zeit des letzten Lockdowns mit?“.
Links:
Tutorial NUF-Groove auf dem Karton
3. Erreichbarkeit und Niederschwelligkeit
„Sounds of Buchheim“ lebt seit jeher von seinem inklusiven Ansatz. Die Angebote sind niederschwellig erreichbar und eine sinnvolle, musikalische Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten ist, so lautet stets der normative Handlungshorizont des Projekts, immer und zu jeder Zeit voraussetzungslos möglich. Folgende Erfahrungen wurden während der Pandemie in Zusammenhang mit der Niederschwelligkeit der digitalen Projektmodule gemacht: Browserbasierte Plattformen, die für erfahrene Musiker*innen zwar Vielversprechendes und intuitiv zu Bedienendes bereithalten, sind für die teilnehmenden Laienmusiker*innen schwer erreichbar und bedienbar, auch wenn diese schon teilweise über mehrere Jahre an den Ensembles des Stadtteilprojektes in Präsenz mitgewirkt haben. Das Projektteam hat in den Monaten September - Dezember 2020 intensiv versucht, die Plattform Bandlab[5] im Stadtteilorchester zu etablieren. Hierbei handelt es sich um eine browserbasierte Digital Audio Workstation (DAW), die es mehreren Musiker*innen ermöglicht, dezentral am selben Projekt zu arbeiten. Interessant schien die Anwendung deshalb, weil im Falle einer möglichen Schließung weiter und dezentral an Songs oder weiteren Ideen gearbeitet werden kann. Selbst wenn es nur zu einer Ansammlung von Spuren, Stimmen oder Fragmenten gekommen wäre, wäre dies für das Projektteam ein Ansatzpunkt zum weiteren Arbeiten gewesen.
Deshalb wurden detaillierte und ausführliche Schritt-für-Schritt-Tutorials erstellt und in den verschiedenen, in diesem Zeitraum noch möglichen Präsenzformaten versucht, mit Teilnehmenden an einer Sound-Library zu arbeiten. Ziel war es, den Aufnahmeprozess so einfach zu gestalten, dass er von den Teilnehmenden zu späteren Zeitpunkten selbstständig und ohne Unterstützung der im Lockdown abwesenden Dozent*innen hätte durchgeführt werden können. Allerdings blieb es bei der reinen Vorstellung der Möglichkeiten. Bandlab wurde nur kurzzeitig von den Dozierenden genutzt, von den Teilnehmenden blieben die Rückmeldungen aus. Allein der Anmeldeprozess stellte den Teilnehmer*innen eine offensichtlich unüberwindbare Hürde, sodass der Versuch, mit Bandlab zu arbeiten, schließlich aufgegeben wurde.
Als im Januar 2021 erneut und dieses Mal für einen absehbar langen Zeitraum alle Präsenzangebote zum Erliegen kamen, stellte sich der Aspekt der musikalischen Zusammenarbeit hinter der Frage an, wie überhaupt ein Kontakt zwischen Dozierenden und Teilnehmenden im Projekt zustande kommen und nachhaltig bestehen konnte. Per E-Mail ließ sich zwar ein bestimmter Teil der Teilnehmer*innen erreichen, jedoch nur diejenigen, die im Projektverlauf ihre Daten hinterlegt hatten. Dies trifft auf einen großen Teil der Teilnehmer*innen der offenen Angebote in den Jugendeinrichtungen, der Pop-Up-Sessions etc. nicht zu. Das Projektteam nachte die Erfahrung, dass die große Mehrheit der Teilnehmer*innen gut über WhatsApp erreichbar ist: WhatsApp scheint – aufgrund der einfachen Bedienbarkeit, der Popularität und der (solange es WLAN gibt) Kostenlosigkeit – die niederschwellige Alternative zu Mail-Kontakten, Zoom-Räumen oder Facebookgruppen zu sein. Hier können musikalische Gruppenprozesse zumindest „kommuniziert“ werden, um die Teilnehmer*innen dann ggf. auf andere Plattformen umzuleiten. Dass sich gerade WhatsApp am wenigsten für musikalische Gruppenprozesse eignet (noch weniger als bspw. Zoom), war und ist den Beteiligten des Projekts klar. Dennoch muss hier aus der Perspektive von Teilnehmer*innen eines niederschwelligen Projekts gedacht werden – WhatsApp ist in einigen Communitys der einzige Messenger-Dienst, der flächendeckend spontan verfügbar und zugänglich ist. So wurden einige Teilnehmer*innen beispielsweise einige Wochen lang in regelmäßigen Abständen per WhatsApp-Videoanruf an der Gitarre „unterrichtet“. Im Vordergrund stand hier während des Lockdowns vor allem die soziale, weniger die musikalische Qualität solcher Angebote.
Um nach den ersten Kontaktaufnahmen nun musikalische Prozesse zu ermöglichen, die über das Musizieren mit Haushaltsmaterialien hinaus gingen, mussten die Teilnehmenden mit Instrumenten versorgt werden: Der größte Teil der Teilnehmenden von SOB verfügt nicht über eigene Instrumente. Es gehört zu den wesentlichen Zielen von SOB, Inklusion und Barrierefreiheit in Kontexten der Kulturellen Bildung zu ermöglichen – dies realisiert sich nur, wenn auch ein kostenloser Zugang zum Projekt und damit auch zu Instrumenten gewährleistet ist. Deshalb stellt die Offene Jazz Haus Schule seit Jahren den SOB-Teilnehmer*innen eine breite Auswahl an Instrumenten zur Verfügung. In dem Moment, in dem die Teilnehmenden nicht mehr zu Präsenzangeboten erscheinen können, schließt sich selbstredend auch dieser Zugang. Aus diesem Grund entschied das Projektteam, die Instrumente, welche in den Zeiträumen der jeweiligen Lockdowns in den Kellern der Probenorte lagen und nicht genutzt wurden, an Teilnehmende zu verleihen. Hierfür wurden Leihverträge abgeschlossen und individuelle Absprachen mit einzelnen Teilnehmer*innen getroffen. Anders als es im Musikschul-Bereich der Offenen Jazz Haus Schule der Fall ist, sind die Teilnehmenden im soziokulturellen Bereich nicht in der Datenbank registriert und durch ihre unverbindliche Teilnahme an den Angeboten wie „Sounds of Buchheim“ auch nicht wirklich der Offenen Jazz Haus Schule verbunden. Der Verleihprozess bedeutete für die Offene Jazz Haus Schule deshalb, den Teilnehmer*innen in größerem Maße zu vertrauen, als es bisher angemessen und notwendig erschien. Die Entscheidung, Instrumente zu verleihen, schaffte auch einen Grund, bestimmte Teilnehmer*innen aufzusuchen und mit ihnen persönlich in Kontakt zu treten.
Die ohnehin verschärften sozialen Lagen kamen unter den Bedingungen von Schließungen weiter in Bedrängnis und verschärften sich durch die Pandemie noch härter. Gerade deshalb war es wichtig, mit allen Kräften an Ideen zu arbeiten, die eine inklusive kulturelle Bildungsarbeit auch im Lockdown ermöglichen.
4. Plattformen und Formate: Der NUF auf Instagram, YouTube und Facebook
Die Kunstfigur „Der NUF“ (Anagramm aus dem Wort „Freund“) wurde ursprünglich als verbindendes und sinnstiftendes Element im Rahmen des Bühnen-Projekts „Buchheim United“ entworfen. Auch dieses Projekt musste im Jahr 2020 seine ursprünglichen Angebote anpassen und statt einer Abschlusspräsentation auf einen Film ausweichen. Durch den Film moderiert hier das Phantasiewesen „Der NUF“.
In den Projekten „Sounds of Buchheim“ und „SOB-Digital“ dient die Figur heute als Namensgeber für die Plattformen, auf denen „Sounds of Buchheim“ seine digitalen Aktivitäten präsentiert und auf denen die Teilnehmer*innen zur musikalischen Zusammenarbeit aufgerufen werden. Folgende Plattformen werden für die digitale Präsenz bespielt:
- Ein Instagram-Kanal für kurzweilige Inhalte wie Einzelbeiträge, Storys und Reels. Während nach den Phasen mit Einschränkungen die Plattform noch für Ankündigungen oder Blitzlichter aus den Präsenzangeboten diente, wurden hier in Lockdownzeiten Songs geteilt, einzelne Grooves präsentiert und die Teilnehmenden zur musikalischen Interaktion aufgefordert. So wurden beispielsweise in der Serie „Nuf’s Grooves“ kurze Grooves und dazu passende Tutorials vorgestellt, die dann von den Teilnehmenden zuhause gespielt, aufgenommen und über WhatsApp eingesendet wurden. Da Instagram hauptsächlich für Smartphones optimierte Formate bereithält, wurde hier, wenn beispielsweise ausführlichere Tutorials auf YouTube präsentiert wurden, auf diese verwiesen. Instagram eignet sich selbst nicht so gut zum Konsum von Musik, ist jedoch aufgrund seiner Popularität bei Jugendlichen nicht zu umgehen.
- Auf dem NUF-YouTube-Kanal werden zwar hauptsächlich Formate ähnlich denen auf und vor allem parallel zu Instagram veröffentlicht, hier ist jedoch Platz für längere und ausführlichere Musik- und Videobeiträge. So wurden hier unter anderem Schnipselsongs veröffentlicht, die aus Sound-Schnipseln von Teilnehmer*innen und Dozierenden gemeinsam entstanden. Auch konnten hier ausführlichere Tutorials zur Anregung gemeinsamer Prozesse platziert werden. Zusätzlich zum öffentlichen Angebot, findet sich auch eine für die Teilnehmer*innen des inklusiven Stadtteilorchesters exklusive Video-Playlist. Diese dient hauptsächlich der Sicherung einzelner Stimmen, Song-Strukturen oder ganzer Aufnahmen sowie dem gemeinsamen, kreativen Fortkommen und der Weiterentwicklung des Repertoires des Stadtteilorchesters und seiner jeweiligen Ableger.
- Vor der Pandemie ging es im Wesentlichen darum, auf Plattformen wie Facebook ein Mindestmaß an Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. So wurde bereits 2017 eine eigene Seite für „Sounds of Buchheim“ auf Facebook angelegt, die jedoch hauptsächlich für Konzertankündigungen genutzt wurde. Im Zuge des Projekts „SOB-Digital“ stellte sich heraus, dass über Facebook nahezu niemand aus dem eigenen Teilnehmer*innenkreis erreicht werden konnte. Daraus schloss das Projektteam, dass sich Facebook für die Vorhaben nicht eignete und konzentrierte seine Aktivitäten auf die Bereiche des Instagram- und des YouTube-Kanals sowie die Betreuung des SOB-Handys.
An der mittlerweile beachtlichen Playlist aus Schnipselsongs, Musikinterviews, NUF-Grooves und Tutorials, die seit 2021 stetig gewachsen ist, lässt sich ablesen und nachempfinden, wie sehr die Teilnehmenden des Projekts auch durch die Pandemie kreativ und gestalterisch wirken und so auch die gemeinsame Zusammenarbeit ernst nehmen. Zwar wäre dies natürlich niemals ohne die intensive, über zehnjährige „Präsenzphase“, die dem Projekt „SOB-Digital“ voraus ging, denkbar. Dennoch wird hier sichtbar, inwiefern eine musikalische Zusammenarbeit mit der Community eines Stadtteils erstens möglich ist und zweitens dann auch über denkbar „ungünstige“ Plattformen über einen Zeitraum von wenigen Monaten zumindest stattfindet. Dabei stellte sich heraus, dass die angesprochenen Sozialen Medien bloß Kanäle darstellen, während die eigentlichen kreativen Prozesse abseits dieser Kanäle stattfinden.
5. Partizipative digitale Formate in Präsenz
- Musikproduktion am eigenen Handy: Da heute fast jede*r Jugendliche über ein Smartphone verfügt, lag es nahe, mit den Teilnehmenden der Projekte gemeinsam die Möglichkeiten der digitalen Musikproduktion auf dem eigenen Smartphone oder Tablet zu erkunden. Hierzu wurden von den Dozierenden eigene, intensive Ferienworkshops angeboten, die unter dem Stichwort „Handymusik“ in die Musikproduktion mit Apps wie Garageband einführen wollten. Die Workshops hatten zum Ziel, in das virtuelle Instrumentarium einzuführen, wesentliche Funktionen wie etwa „Live-Loops“ kennen und verwenden zu lernen, Aufnahmen herzustellen, Sounds zu samplen und so zu eigenen Song-Skizzen zu gelangen. Am Ende wurden in den Workshops je Einheit mehrere Skizzen sowie drei längere Stücke produziert. Umgesetzt wurden die Workshop-Einheiten dabei auf den eigenen Handys, auf iPpads, die von der Offenen Jazz Haus Schule bereitgestellt wurden, sowie in kleinen Live-Settings.
- Radio SOB: Im Frühjahr 2022 waren Präsenzangebote wieder unter weitgehend normalen Umständen möglich. Dennoch zeigte sich, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene die Formate von „Sounds of Buchheim“, insbesondere des offenen Stadtteilorchesters nur zögerlich aufsuchten. Nicht nur, damit erneut für das Patchwork verschiedener Musikangebote geworben werden konnte, sondern auch, damit sich die Teilnehmenden diesen auch aus journalistischer Perspektive nähern und so ihr eigenes Modul jeweils innerhalb des Gesamtprojektes bekannter machen konnten, startete im Frühjahr 2022 das Projektmodul „Radio SOB“. An drei Nachmittagen trafen sich hierzu in den jeweiligen Einrichtungen Redaktionsteams, in denen die Beiträge von den Teilnehmenden gestaltet und recherchiert wurden. Nachdem anhand einiger Beispiele von verschiedenen Radiosendern ausgearbeitet wurde, wie ein solches Feature inhaltlich aufgebaut sein sollte, wurden die Inhalte von „Radio SOB“ festgelegt, Moderationsrollen verteilt, Interviewleitfäden entwickelt und sich in die Aufnahmetechnik eingearbeitet. Anschließend besuchten die Redaktionsteams das Feld. Bei den Proben des inklusiven Stadtteilorchesters, im Bandraum des August Bebel Hauses und im Offenen Musikraum des Don Bosco Clubs wurden Interviews geführt und Live-Mitschnitte angefertigt. Der fertig produzierte Beitrag wird voraussichtlich im Sommer 2022 zu hören sein.
6. Konflikte, Probleme und Sackgassen
Um die digitale Projektausgabe konstituierten sich eine Reihe von immer noch offenen Fragen und Problemstellungen, die im Folgenden hier kurz angerissen werden sollen:
- Wie eingangs erwähnt wurde, lautete in Pandemiezeiten das primäre Ziel des Dozent*innenteams, die Kontakte zu und die gemeinsamen musikalischen Prozesse mit den Teilnehmenden aufrechtzuerhalten. Während sich mit den ersten Öffnungsschritten die Kontakte zumindest auf der Möglichkeitsebene normalisierten, blieben die gemeinsamen musikalischen Prozesse weiter im Mittelpunkt des Projektinteresses – damit rückte die Digitalisierung im soziokulturellen Kontext in den Bereich der Unterstützung und Ergänzung der pädagogischen Arbeit vor Ort. Sie muss heute nicht mehr gänzlich abfangen, was im Lockdown.an Zusammenspiel unmöglich war. Mit der Zeit wurden rein virtuelle gruppenkreative Prozesse mehr und mehr überflüssig. Unbeantwortet bleibt in diesem Zusammenhang die Frage, ob überhaupt von Gruppenprozessen die Rede sein kann, wenn sich eine Anzahl an Individuen an jeweils verschiedenen Endgeräten befindet und dabei nur virtuell miteinander verbunden ist.
- Dass musikalische Gruppenprozesse online nicht so funktionieren, wie wir es aus den Ensembles von SOB gewohnt sind, zeigt unter anderem das folgende Beispiel: Das projekteigene Research-Ensemble kam während des langen Lockdowns in der ersten Jahreshälfte 2021 selbst zum Erliegen. Kennzeichnend für die Buchheimer Arbeit ist vor der Pandemie immer gewesen, dass das Projektteam seine gemeinsamen Prozesse in einem eigens hierfür eingerichteten Research-Ensemble reflektiert und „beforscht“. Das Team hat über mehrere Monate (Januar - März 2021) versucht, mit dieser Forschungsarbeit in virtuelle Räume auszuweichen (bspw. über die Plattform SonoBus). Dies war nicht erfolgreich, denn die individuellen musikalischen Prozesse waren sehr voneinander isoliert. Sinnvolle, musikalische Bezugnahmen aufeinander waren aufgrund technischer Hürden und des irritierend sterilen Klangs aus „Geräten“ kaum bzw. nicht möglich, sodass heute von einem Scheitern gesprochen werden muss. Dessen Konsequenz müsste wiederum lauten, dass die gemeinsamen musikalischen Prozesse, die wir aus den analogen Situationen kennen, in einer rein digitalen Umgebung auch mit unseren Teilnehmer*innen nicht funktionieren.
- Teilnehmer*inneninspirierte Musikstücke: Während der teils sehr aufwendigen Produktionsprozesse von Schnipselsongs und NUF-Groove-Songs wurde deutlich, dass, nachdem die Teilnehmenden Ideen und Beiträge eingebracht hatten, der künstlerische und produktive Bearbeitungsprozess durch die betreuenden Musiker*innen die Ergebnisse so sehr verändern kann, dass für die Teilnehmenden nicht mehr unbedingt nachvollziehbar war, dass es sich hier um ihr Stück bzw. um ihre Idee handelte. So meldeten Kolleg*innen zurück, die Musik hinter den Schnipselsongs ließe sich zwar bestens hören, sei jedoch weit weg von der ursprünglichen „Schnipsel-Idee“. Hier drängten sich folgenden Fragen auf: Inwiefern kann der Beitrag der Teilnehmenden erhalten und der künstlerische Eingriff von professionellen Musiker*innen möglichst gering gehalten werden, ohne die musikalische und klangliche Qualität zu vernachlässigen? Wie kann die Schnipsel-Musik weiter für die Teilnehmenden interessant gehalten werden? Wie kann der einzelne Beitrag, die einzelne Idee noch im Mittelpunkt eines Schnipselsongs stehen bleiben?
- Eine allgemeine Medien-Diskussion liegt dem Projektteam fern. Das Team begründet dies so: Wir konnten zeitweise nicht anders als digital arbeiten, und nach nun über zwei Jahren Pandemie ist eine zumindest teilweise Digitalisierung unserer Arbeit unausweichlich geworden. Dennoch muss sich das Team um das Projekt wie auch ggf. die gesamte Offene Jazz Haus Schule der Frage stellen: Wie sinnvoll ist es, mit Teilnehmer*innen auf Plattformen wie Instagram oder YouTube zu arbeiten, deren Werte wir eigentlich nicht teilen? Musik wird von Kindern und Jugendlichen heute fast ausschließlich digital konsumiert. Selbst Plattformen, die eigens hierfür geschaffen wurden, werden von Instagram und neuerdings vor allem von TikTok verdrängt, dessen Format Beiträge von zehn bis dreißig Sekunden zulässt und dabei die kürzeren, schrilleren und bunteren, nicht etwa die qualitativ anspruchsvolleren Beiträge in ihren Algorithmen fördern. Ein echtes, ästhetisch-starkes Live-Erlebnis, wie wir es beispielsweise aus den Buchheimer Proben oder dem Offenen Musikraum kennen, kann durch den Konsum solcher Inhalte auf den besagten Plattformen beim besten Willen nicht erreicht werden. Von gemeinsamen Prozessen kann hier ebenfalls noch lange keine Rede sein.
7. Ausblick
Abschließend können wir an dieser Stelle also nur davon sprechen, dass ein sinnvolles Zusammenwirken aus Präsenz- und Digitalangeboten, die eine nachhaltige Entwicklung für die kulturelle Landschaft eines Stadtteils, die Selbstermächtigung von Kindern und Jugendlichen mit Blick auf gemeinsame, künstlerische und produktive Prozesse stärken, im Sinne soziokultureller Arbeit erfolgreich sein kann.
Das Projektteam versteht seine digitalen Angebote und Formate, die es über die Lockdown-Zeit hinaus betreibt, nicht als reines Supplement vorher stattgefundener soziokultureller Arbeit. Dass diese rein virtuell überhaupt nicht denkbar sind, ergibt sich wenig überraschend aus den oben genannten Erfahrungen und Erkenntnissen. Die Frage, ob und welche Vorteile der digitalen und virtuellen Angebote den oben genannten Problemstellungen gegenüber stehen, sollte deshalb aus Perspektive der Teilnehmer*innen gedacht werden. Ein Anliegen der Arbeit von „Sounds of Buchheim“ ist immer gewesen, eine Community zu ermöglichen und den Bewohner*innen der Stadtteile die Möglichkeit zu geben, sich selbst als ernstgenommene und gestaltende Mitglieder dieser Community wahrzunehmen. Das Projektteam ist davon überzeugt, dass sich diese Community auch in sozialen Netzwerken präsentieren und unter dem Slogan „Be part of the community!“ für sich werben kann, ihre Inhalte preisgeben und so am Dialog eines Stadtteils teilhaben sollte. Soziale Medien spielen heute eine immer bedeutendere Rolle, indem etwa für Angebote und Netzwerke geworben oder auf deren Basis Kontakte zu Teilnehmer*innen und Kooperationspartner*innen gepflegt werden können. Für die Zukunft sollte deshalb daran gedacht werden, in weiteren Projekten Ressourcen für sinnvolle Social-Media-Arbeit bereitzuhalten und mit den Teilnehmer*innen auszuloten, was sie für sinnvoll erachten und wie sie sich mit ihren Projekten präsentieren möchten.
[1] O-Ton eines*einer Teilnehmer*in im Radio-Beitrag „Radio SOB“, Veröffentlichung im Sommer 2022
[2] Link zur Playlist mit Schnipselsongs
[3] Zur Abkürzung NUF siehe Kapitel 4.
[5] Bandlab ist eine browserbasierte DAW. Über die Anwendung können mehrere Musiker*innen dezentral am selben Projekt arbeiten, sie ist kostenlos im Browser mit einem Google-Konto nutzbar. Vgl. auch Pascal Hahn (2022): Bandlab - Musik kollaborativ kreieren, mixen und teilen. Ein Leitfaden.