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Vokale Improvisation mit Grundschulkindern

Sonja Katharina Mross

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Vorwort

Als ich vor einigen Jahren anfing, mit Grundschul-Kindergruppen gesanglich zu arbeiten, dachte ich, dass in diesem Rahmen vokale Improvisation schwer bis unmöglich sein würde. Um sinnvoll improvisieren zu können, vor allem in einer Gruppe, müsse man zuerst sehr sicher ein- und auch mehrstimmig singen können, so war meine damalige Haltung. Da Vokalimprovisation ein wunderschöner und wichtiger Teil meines künstlerischen Schaffens ist, näherte ich mich dem Thema über die Jahre dennoch immer wieder an und probierte viele Methoden mit meinen Schüler*innen aus. Mein Resümee: Manches funktioniert und macht Spaß, anderes nicht. In dieser Dokumentation gebe ich nun einen Einblick in die Methoden, die sich in meinem Unterricht bewährt haben.

 

1. Enge Konzepte

a) Namen-Singen

Das Namen-Singen ist Teil meiner Routine zu Anfang der Stunde. Das Format führt schlussendlich zu vokaler Improvisation der Kinder, a capella und ohne Timing, und baut sich über fünf Phasen auf.

  • Phase 1: Zu Beginn der Stunde zeige ich ein Namensschild nach dem anderen und singe den jeweiligen Namen auf einer von mir improvisierten Melodie. Alle Kinder singen gemeinsam nach, das angesprochene Kind kommt zu mir und holt sich sein Schild. In dieser Phase hören die Kinder verschiedene Möglichkeiten, welche Melodien man singen könnte. Ich achte darauf, abwechslungsreiche Melodien vorzusingen – in-time, rubato, Dur, Moll, mit wiederholten und/oder gedehnten Silben, variierten Ranges und Klangfarbe usw.
  • Phase 2: Nachdem alle Kinder den Namen nachgesungen haben, singt das angesprochene Kind seinen Namen alleine nach – erst freiwillig, später alle. Auf diese Weise gewöhnen sich die Kinder niederschwellig an das Solo-Singen.
  • Phase 3: Ich gebe mein Namensschild an ein Kind, das sich freiwillig gemeldet hat und meinen Namen auf einer improvisierten Melodie vorsingt. Danach singen alle nach, dann ich.
  • Phase 4: Ich verteile Schilder der Kinder an Kinder, die einen Namen vorsingen möchten. Die übriggebliebenen Namen singe ich selbst. Der weitere Ablauf bleibt wie in Phase 2 beschrieben.
  • Phase 5: Ich verteile alle Schilder. Der weitere Ablauf bleibt wie in Phase 2 beschrieben

 

b) Sing Memory

Sing-Memory funktioniert wie Memory, nur dass die Kinder sich nicht Bilder, sondern Melodien merken müssen. Zwei Kinder fungieren als Spieler*innen und gehen vor die Tür, alle anderen tun sich zu zweit zusammen. Jedes Paar überlegt sich eine Melodie und singt sie mir vor. Manchmal ist den Kindern die Melodie noch nicht ganz klar, oder die beiden Partner*innen singen nicht dieselbe Melodie. In diesem Fall sage ich ihnen, dass sie noch einmal kurz üben gehen sollen und lasse es mir danach erneut vorsingen. Ggf. nehme ich die Melodie mit dem Handy auf, damit wir es uns hinterher zusammen anhören können. Ich achte darauf, dass keine zwei Paare dieselbe Melodie haben. Wenn alle etwas gefunden haben, setzen sie sich in den Kreis – aber nicht neben den*die Partner*in. Nun kommen die Spieler*innen herein. Eine*r beginnt, ruft ein Kind im Kreis auf, welches seine Melodie vorsingt. Dann ruft er*sie ein zweites Kind auf. Passen die beiden zusammen, gehen die beiden Kinder aus dem Kreis und setzen sich an den Rand. Der*die Spieler*in erhält einen Punkt und darf erneut Kinder auswählen. Passen die Melodien nicht zusammen, so ist der*die andere Spieler*in dran.

  • Phase 1: Um den Spielablauf zu üben, gebe ich bei den ersten 3 oder 4 Durchgängen den Auftrag, dass die Kinder Melodien von Liedern nehmen sollen, die sie schon kennen.
  • Phase 2: Meine Erfahrung hat gezeigt, dass es für Kinder sehr viel einfacher ist, sich Melodien mit Text zur merken. Deshalb gebe ich den Auftrag, sich einen Satz zu überlegen, den sie singen wollen, und übe das gemeinsam in der Gruppe vor Spielbeginn. Ich frage nach Ideen, worüber man singen könnte. Ein Kind schlägt zum Beispiel vor: „Über Eichhörnchen“. Ich improvisiere dann Text und Melodie zum Thema Eichhörnchen und frage nach weiteren Ideen. Nach ein paar Wiederholungen trauen sich auch Kinder, ganze Sätze vorzusingen. Nun wissen die Kinder, wie es funktioniert und können alleine weiterarbeiten.

 

c) Selber Ton / Anderer Ton / Melodie / in time

  • Variante 1: Selber Ton: Ich singe einen Ton in einer für die Kinder bequemen Lage auf einer beliebigen Silbe (z. B. „la“) vor und jedes Kind singt ihn reihum nach. In den ersten Stunden korrigiere ich nicht, wenn ein Kind einen anderen Ton als den zu Anfang festgelegten singt, sondern gebe den richtigen Ton in die Gruppe, bevor das nächste Kind an der Reihe ist. Ab der zweiten oder dritten Stunde gebe ich dem Kind Rückmeldung, wenn der von ihm gesunge Ton nicht derselbe ist wie der Anfangston. Oft klappt es dann beim zweiten Versuch. Ein Großteil der Kinder ist von Anfang an in der Lage, den Ton richtig nachzusingen. In der zweiten und dritten Runde darf eines der Kinder einen Ton bzw. eine Silbe losschicken.
  • Variante 2: Anderer Ton: „Anderer Ton“ hat denselben Ablauf wie „Selber Ton“. Ich (oder ein Kind) schicke einen Ton los. Diesmal ist die Aufgabe, auf derselben Silbe einen anderen Ton, also eine andere Tonhöhe als der*die Vorgänger*in zu wählen. In diesem Spiel thematisiere ich den Unterschied zwischen Text und Tonhöhe. Oft denken Kinder, dass ein Ton auf derselben Tonhöhe, der auf einer anderen Silbe gesungen wird, ein anderer Ton sei. Es braucht ein paar Stunden der Übung, um das zu klären, doch dann klappt es. Nach ein paar Übe-Runden nehme ich die Kinder beim Singen ihres Tones auf, und wir hören es uns hinterher zusammen an.
  • Variante 3: Anderer Ton in Time: Wenn Variante 1 und 2 gut funktionieren, kann man den Faktor Time hinzunehmen. Dazu machen alle Kinder auf den Oberschenkeln „Bum Tschack Bumbum Tschack“ auf 1, 2, 3, 4. Bei jedem Bum singt nun ein Kind einen anderen Ton, bei Tschack ist jeweils Pause. Ich komme nur sehr selten mit Kindern so weit, dass es in Time funktioniert, meistens verlieren sie (oder ich) vorher das Interesse an diesem Format. Es ist aber gut denkbar, das Thema im zweiten oder dritten Jahr wieder aufzugreifen, wenn man mit einer Gruppe über einen längeren Zeitraum arbeitet.
  • Variante 4: Melodie: Die Varianten 1 - 3 lassen sich auch mit einer Melodie statt nur mit einem einzelnen Ton durchführen. Vor allem Variante 3 kann mit Nutzung von Melodien auch im zweiten oder dritten Jahr sehr reizvoll sein, da sie Raum für musikalische Interaktion zwischen den Kindern gibt und ästhetisch spannend ist.

Anmerkung: Man sollte diese Methode nicht zu lange am Stück verwenden, es darf nicht langweilig werden oder sich abnutzen. Je anspruchsvoller das Format ist, desto kleiner muss die Gruppe sein.

 

d) Stampfi

Das Stampfi-Spiel ist ein Call & Response-basiertes Rhythmus- & Improvisationsspiel. Zu Beginn mache ich mehrere Runden vor, die Kinder wiederholen.

Die Form ist:

Bild1 Stampf

Wenn die Kinder diese Form verstanden haben, dürfen sich Freiwillige melden, um „Caller“ zu sein. Ich gebe ihnen vorab ein bis zwei Minuten Zeit, sich zu überlegen, was sie machen wollen. Wer etwas hat, verschränkt die Hände hinter dem Kopf – als Zeichen, dass er*sie bereit ist. Erlaubt ist alles, was in die zweite Hälfte des 4/4-Takts passt – außer Kraftausdrücke. Wichtig ist, nicht zu schnell anzufangen, Tempo 95 eignet sich zum Einstieg.

In den Runden, in denen ich selbst Caller bin, achte ich darauf, möglichst abwechslungsreich zu sein: Rhythmen nur mit dem Körper (Klatschen etc.), nur Sprache, nur Melodie, Sounds, Stimmbildungsübungen und natürlich Kombinationen aus allen Bereichen. Wenn den Kindern nichts einfällt, kann man auch mal eine Runde machen, bei der jeder sein Lieblingstier im Rhythmus sagt, das mögen die Kinder immer sehr. Auch eine Runde mit Phantasiewörtern macht den Kindern viel Spaß, also nur mit Wörtern, die es nicht gibt (z. B. „Schnabi, Kran pfupf, Schlippiflupp“).

Das „Stampf Stampf“ macht man mit den Füßen (rechts, links) auf dem Boden. Die Übung kann man im Stehen oder im Sitzen machen, ich mache sie meistens im Sitzen. Nach einigen Monaten der Freiwilligkeit soll dann die ganze Gruppe etwas vormachen, also Jede*r mal Caller sein. Mein Ziel ist, dass die ganze Gruppe es ohne Unterbrechung („Denkpausen“) und in Time hinbekommt. Ganz erfahrene Stampfi-Spieler*innen schaffen auch mehrere Runden am Stück, bei denen sie ihre Beiträge improvisieren und nicht vorher Zeit zum Zurechtlegen bekommen.

 

e) Der rote / bunte Ball

„Der rote Ball“ basiert auf einem Spiel aus der Ward-Methode, welches ich ein wenig weiterentwickelt habe.

Bild2 Roter Ball

Ich singe mit der obigen Melodie (ohne Time): „das ist der rote Ball, ich werf‘ den roten Ball … zu XY“ (z. B. Johann). Dazu werfe ich den imaginierten Ball zu diesem Kind. XY singt dann denselben Text und dieselbe Melodie und „wirft“ den Ball zum nächsten Kind. Wenn ein Kind die Melodie nicht singt, „fällt“ der Ball runter, ich hebe ihn auf und werfe ihn zu einem anderen Kind. Sobald der Großteil der Kinder den roten Ball beherrscht, dürfen sie neue Farben zaubern, indem sie die Melodie ändern. Das klappt meist erst nach einigen Wochen. Oft passiert es, dass ein Kind auf der „roten“ Melodie „das ist der gelbe/blaue/grüne Ball“ singt. Ich frage dann die Kinder: „War das der gelbe Ball?“ und sie rufen „Nein, der war rot“. Dieses Spiel gibt den Kindern die Möglichkeit, sich ohne den Stress von Timing eine eigene Melodie auszudenken. Wenn ein Kind eine neue Melodie macht, die besonders gut gelungen ist, lasse ich die ganze Gruppe diese Melodie wiederholen. Gegen Ende des Moduls frage ich, ob es noch Kinder gibt, die noch keinen Ball hatten, aber gerne einen wollen. Wenn ja, dürfen diese dann auch noch werfen/singen.

 

2. Lieder

a) Der Stimmakrobat

„Der Stimmakrobat“ [1] ist ein Lied von Uli Führe, bei dem es einen durch einen Refrain gerahmten, dreitaktigen Teil für vokale Improvisation gibt. Jeder Solo-Takt wird dann von der Gruppe wiederholt. Ich bringe den Kindern den Refrain per Call & Response bei und übernehme dann zunächst den Improvisationsteil. Dann frage ich, welches der Kinder nun der Stimmakrobat sein möchte. Ein oder zwei Mutige gibt es früher oder später immer. Das Lied eignet sich gut, um bereits vorhande Fähigkeiten der vokalen Improvisation in einem ästhetisch ansprechenden Rahmen zu nutzen.

Zum Video

 

b) Wo ist der Rhythmus?

Beim Call & Response-Rhythmical „Wo ist der Rhythmus?“ [2] wird in Time improvisiert. Die ersten vier Takte werden von allen gesprochen. Dann gibt es in jeder Runde eine*n, der*die den Rhythmus „klaut“. Der*diejenige spricht dann „ich hab‘ den Rhythmus“ alleine, die Gruppe antwortet „wer, wer, wer?“. Das wird wiederholt. Der*die „Dieb*in“ macht dann zwei mal einen Takt lang in Time einen Rhythmus vor – z. B. mit Stimme, Bodypercussion, Beatbox. Die Gruppe wiederholt jeweils den Rhythmus. Die ersten paar Male spiele ich selbst die Diebin, damit die Kinder das Spiel kennenlernen.

 

3. Offene Konzepte

a) Klang- und Rhythmusmaschine

Bei diesem fantasievollen Format ergeben Bewegung und Klang von mehreren Kindern ein Gesamtkunstwerk. Der Titel ist programmatisch: wir „bauen“ eine Maschine aus Menschen, jede*r ist ein Teil der Maschine, reagiert auf die Bewegung und Geräusche der anderen und macht dabei lustige oder seltsame Geräusche. Zum besseren Verständnis des Formats habe ich ein Video produziert, in dem ich die einzelnen Bauteile selber verkörpere.

Zum Video

Die Positionen:

  • Der Motor (im Video oben rechts): Der Motor erzeugt Energie, gibt sie durch seine Bewegung an das erste Zahnrad weiter und macht dabei ein zur Bewegung passendes Geräusch.
  • Das erste Zahnrad (oben links): Das erste Zahnrad nimmt die kinetische Energie vom Motor auf, gibt sie als Bewegung weiter und macht dazu ein passendes Geräusch.
  • Das zweite Zahnrad (unten links): Das zweite Zahnrad nimmt die kinetische Energie vom ersten Zahnrad auf, gibt sie als Bewegung weiter und macht dazu ein passendes Geräusch.
  • Der Output (unten rechts): Die letzte Position nimmt die Energie vom benachbarten Zahnrad auf und wandelt sie in ein Endergebnis um. Im Falle meiner Maschine ein Schnipps und „Ba!“.

Man kann die Maschine auch um ein oder zwei Zahnräder erweitern. Ich empfinde eine Gruppengröße von 4 - 5 Kindern als gut geeignet.

Einführung: Bei der Einführung bin ich die Architektin und gebe den Kindern vor, was sie machen sollen. Zuerst denke ich mir einen Motor aus, mache Bewegung und Geräusch und frage dann, welches Kind den Job übernehmen will. Wenn ein Kind dann den Motor übernimmt, denke ich mir das erste Zahnrad aus, mache es vor, und lasse es von einem Kind nachmachen. Dasselbe gilt für die anderen Positionen. Ich erkläre die Bilder, die ich dazu im Kopf habe. Z. B. könnte zwischen dem Motor und dem ersten Zahnrad ein Gummiband sein, dass über drei Viertel Spannung aufbaut, sich beim vierten Viertel löst und dabei eine Bewegung und ein Geräusch bei Zahnrad 1 erzeugt. Zahnrad 2 könnte eine metallische Federung haben, die eingedrückt oder langezogen wird, und dann zurückschnellt, wenn die Spannung ihren Höhepunkt erreicht. Ich benenne, aus welchem Material die einzelnen Bauteile bestehen: Metall, Keramik, Gummi, Plastik etc. Diese konkreten Bilder helfen den Kindern, im nächsten Schritt selbst kreativ zu werden.

Kleingruppenarbeit: Nun sollen die Kinder eigenständig arbeiten. Ich lasse sie sich in Gruppen von 4 - 5 Kindern zusammenfinden, in Ausnahmefällen sind auch 3er-Gruppen möglich. Sie verteilen sich mit möglichst viel Abstand zwischen den Gruppen. Ich gehe dann von Gruppe zu Gruppe und schaue, wie sie zurechtkommen. Ich frage: „Wer ist Motor?“ Dieses Kind fängt an. „Wer will das erste Zahnrad sein?“ Dieses Kind baut auf den Motor auf und so weiter. Oft hakt es, weil ein Kind den anderen vorschreiben will, was sie machen sollen. Ich sage dann, dass jedes Kind selbst entscheiden darf, welche Bewegung und welches Geräusch es machen will. Wenn alle Gruppen mit der Erarbeitung fertig sind, frage ich, wie die Maschine heißen soll.

Präsentation: Die Gruppe, die anfangen möchte, geht „auf die Bühne“, die anderen Kinder bilden das Publikum. Ein Kind aus dem Publikum darf mit den Fingern lautlos drei Sekunden Stille abzählen. Dann sagt eines der Kinder auf der Bühne, das sich dafür freiwillig meldet, den Namen der Maschine. Ich schalte dann die Maschine an. Ich lasse sie einige Runden laufen und drücke dann auf „Stopp“. Das Publikum applaudiert. Wenn noch Zeit ist, kann das Publikum sagen, was ihm besonders gut an der Maschine gefallen hat.

Anmerkung: Ich habe dieses Format nach einigen Jahren Pause in diesem Schuljahr wieder aufgegriffen und war erstaunt und begeistert, welcher Reichtum an kreativem Potenzial sich bei den Kindern gezeigt hat. Zudem bietet die Methode die Gelegenheit, eigenständiges Arbeiten und Teamwork zu üben.

 

b) Soul Song

Dieses Improvisationskonzept wurde entwickelt von der weltweit bekannten Vokalimprovisations-Ikone Rhiannon. Folgendes Tafelbild male ich vor der Stunde an:

Bild3 Tafelbild

Das Stück ist in vier Phasen gegliedert. Beim Singen wird der Vokal „u“ genutzt. Der Übergang zwischen den Phasen sowie Anfang und Ende des Stückes werden nicht angeleitet, sondern von den Kindern kollektiv gespürt und umgesetzt.

  • Phase 1: Ein Kind beginnt mit einem hörbaren Ausatmen. Nach und nach steigen alle Kinder ein.
  • Phase 2: Ein Kind beginnt, einen Ton zu singen. Nach und nach steigen alle Kinder ein und singen denselben Ton unisono.
  • Phase 3: Alle Kinder bleiben auf dem Unisono-Ton. Dann beginnt ein Kind, einen anderen Ton zu singen. Nach und nach singen alle Kinder einen anderen Ton, bis keines mehr auf dem ursprünglichen Unisono ist. Man singt einen Ton immer so lange, bis der Atem leer ist, dann atmet man ein und singt einen neuen Ton. Alle Töne sind Liegetöne, es gibt also keine Melodien, sondern ein mehrstimmiger Cluster, der sich durch den Tonwechsel nach dem Atmen langsam verändert.
  • Phase 4: Unmerklich einigt sich die Gruppe auf einen neuen Unisono-Ton. Erst singen nur zwei Kinder denselben Ton, dann kommt ein drittes und viertes dazu, schließlich sind alle dort angekommen. Das neue Unisono wird noch eine Zeit gehalten, dann ist das Lied zu Ende.

Anmerkung: Die Aufgabenstellung ist mit den vier Phasen, der Mehrstimmigkeit und der Notwendigkeit, aufeinander zu hören und als Kollektiv ohne Anleitung von außen Entscheidungen zu treffen, recht komplex. Ich habe dieses Konzept mit einer Gruppe von Zweitklässler*innen drei Mal ausprobiert und war erstaunt, wie gut es funktionierte und sich die meisten Kinder darauf einlassen konnten. Die jeweiligen Durchgänge habe ich mit dem Handy aufgenommen und die Aufnahme hinterher zusammen mit den Kindern angehört. Dann habe ich gefragt, was sie beim nächsten Mal anders machen würden. Aufnahme und gemeinsames Anhören bieten den Vorteil, dass die Kinder sich selbst besser reflektieren können, allerdings nimmt es ein wenig Freiheit weg. Wahrscheinlich werde ich bei weiteren Proben die Aufnahme weglassen und das Stück nur für das „Jetzt“ machen. Die Kinder haben sich gewünscht, dass wir das Stück beim Auftritt vorführen, was mich freut.

Zum Video

Das Unisono ist nicht ganz unisono, weil ein paar Brummer in der Gruppe sind.

 

4. Text-Impro

Unter dieser Überschrift sammle ich verschiedene Formate, bei denen die Kinder und ich gemeinsam eine Geschichte erfinden. So erfahren wir einen gemeinsamen kreativen Prozess auf der Sprachebene. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder es lieben, eine Geschichte erzählt zu bekommen, dass sie ganz gefesselt sind und tief in die Handlung und in ihre inneren Bilder eintauchen. Beim Geschichten erfinden korrigiere ich niemals Grammatik oder Satzbau. Nur wenn es im Laufe der Geschichte schwere kausale Fehler gibt, weise ich darauf hin und lasse das Kind sich selbst korrigieren. Ansonsten lasse ich der Geschichte ihren Lauf, und das macht den Kindern und mir sehr viel Freude.

 

a) Geleitete Geschichte

Um den Einstieg in das gemeinsame Geschichten erfinden zu erleichtern, erzähle ich gerne zu Anfang eine Geschichte, die ich mir in dem Moment ausdenke. Ich frage die Kinder, wer unsere Hauptperson sein soll und nehme den ersten Vorschlag. An geeigneten Stellen bitte ich die Kinder um Ideen: Was passiert als nächstes? Ein Kind meldet sich, und ich baue die Idee ein. Aufzählungen funktionieren ebenfalls sehr gut. Zum Beispiel: Unsere Heldin kommt zu einem großen Fest, dort gibt es ganz viel leckeres Essen. Was gibt es dort alles zu essen? Jetzt dürfen die Kinder Gerichte nennen, die es dort gibt. Oder: Unser Held geht in den Wald und sieht dort viele Tiere und Pflanzen. Dann können die Kinder Tiere und Pflanzen nennen. Obwohl ich die Verantwortung für die Geschichte trage, bietet dieser Rahmen eine sehr niederschwellige Möglichkeit für die Kinder, sich zu beteiligen und so den Prozess des Erfindens von Geschichten aktiv mitzuerleben.

 

b) Ein Teil pro Kopf

Bei diesem Format frage ich wieder, wer unser*e Held*in sein soll. Oft schlagen die Kinder ein Tier oder ein Fabelwesen vor. Wenn sie vorschlagen, dass eines der Kinder Held*in unserer Geschichte sein soll, lehne ich das ab, da die Wahrscheinlichkeit, dass es dann sehr albern wird, recht hoch ist. Alle anderen Ideen sind erlaubt. Dann frage ich, welches Kind mit der Geschichte beginnen will. Ein Kind fängt an: „Es war einmal…“. Es darf 2 - 4 Sätze sagen und gibt denn an den*die Sitznachbar*in weiter. So geht es im Kreis reihum. Auch ich erzähle mit und entwickle die Geschichte weiter, wenn ich an der Reihe bin. Oft nutze ich die Gelegenheit, um eine überraschende Wendung einzubauen und Spannung zu erzeugen. Wenn ich das Gefühl habe, dass es reicht, bitte ich die Kinder, langsam ein Ende zu finden. Wenn ein Kind, das an der Reihe ist, absolut keine Idee hat, darf es auch ausnahmsweise ein anderes Kind um Hilfe bitten. Ich gebe jedoch darauf acht, dass dies nicht zur Gewohnheit wird. Letztlich geht es nicht darum, dass die Kinder sich mit ihren tollen Ideen profilieren, sondern dass sie mitmachen, eine gemeinsame Erfahrung machen und etwas beisteuern. Ziel ist, dass die Kinder ihre eigene Kreativität kennenlernen und entwickeln.

 

c) Ein Satz pro Kopf

Das Format funktioniert genauso wie „Ein Teil pro Kopf“, nur sagt in diesem Format jedes Kind nur einen Satz, bevor es weitergibt.

 

d) Ein Wort pro Kopf

Auch dieses Format funktioniert so wie bei b) beschrieben, nur dass hier jedes Kind lediglich ein Wort sagt, bevor es weitergibt. Die Kinder sind hier bezogen auf Satzbau, Kausalität und Gedächtnis sehr gefordert, und man muss sehr konzentriert mitdenken. Während man den Anfang des Satzes hört, spinnt man schon weiter, was danach kommen könnte, doch oft treffen die Kinder, die zuvor an der Reihe sind, andere Entscheidungen, als man es erwartet hätte. Dann muss man flexibel reagieren. Somit schult dieses Format, abgesehen von den sprachlichen Aspekten, auch das aufeinander Hören und Reagieren.

Anmerkung: Die vier unterschiedlichen Formate bauen aufeinander auf. Ich führe sie der Reihenfolge nach ein, jedoch nicht alle in einer Stunde. Ich würde zum Beispiel in einer Stunde Format a) und b) machen, in der nächsten Format b) und c), in der nächsten Format c) und d).

 

5. Fazit

Meine Perspektive auf Improvisation entwickelte sich mit den Jahren immer mehr dahin, dass ich glaube, dass alle Menschen von Geburt an kreative Fähigkeiten haben. Vokale Improvisation ist etwas zutiefst Natürliches, Menschliches, und beginnt mit dem ersten Atemzug. Im Laufe des Lebens ergeben sich verschiedene Erfahrungen, die den kreativen Ausdruck hemmen: „Sei nicht so laut! Das klingt komisch! Du singst schief!” und Ähnliches. Das ist normal und möchte es nicht überproblematisieren.

Manche der oben genannten Spiele und Methoden schulen das fachliche Können, das Handwerkszeug für den musikalischen Ausdruck wie zum Beispiel Timing, Intonation und Klangvorstellung. Dieses Rüstzeug ist durchaus wichtig und ermöglicht ein noch differenziertes, bewussteres künstlerisches Gestalten.

Andere Spiele und Methoden sind vor allem dazu da, die genannten Hemmungen abzubauen. Ich kann niemandem Kreativität und Inspiration beibringen, aber ich kann einen geschützten, klaren Rahmen schaffen, innerhalb dessen sich die Kinder sicher fühlen und öffnen können. So zeigt sich, was in den Kindern bereits vorhanden ist. Sie können ihre künstlerische Persönlichkeit kennenlernen, weil sie die Erlaubnis haben, sie auszuleben.

Immer wieder merke ich, wie zerstörerisch Kritik für Kinder sein kann. Die Schule ist ein Ort, an dem Kinder oft auf Fehler hingewiesen werden, was nötig ist, um zu lernen. Der*die innere Kritiker*in existiert in Grundschulkindern schon. Sie bewerten sich selbst, ihre Ideen, und auch die der anderen, und sind dabei oft recht hart. Dieses Bewerten ist fatal für Kreativität. Denn wir haben Angst, Fehler zu machen, besonders, wenn wir uns mit unserer Stimme zeigen, die ein Teil unseres Körpers und unseres Ichs ist. Und wo Angst ist, können wir uns nicht öffnen. Wenn wir verschlossen bleiben, kann sich unser kreativer Kern nicht zeigen. Doch wie sonst soll ein Kind lernen, ob es denselben Ton trifft, der vorgesungen wurde, oder nicht? Es ist ein Spannungsfeld, auf das ich aktuell keine finale Antwort finde.

Ein paar Faustregeln haben sich für mich dennoch als hilfreich erwiesen:

  • Wenn ich um Ideen bitte, zum Beispiel beim Erfinden von Geschichten, nehme ich immer den ersten Vorschlag.
  • Bei der Klang- & Rhythmusmaschine ist jedes Kind für sich selbst verantwortlich und darf das Geräusch und die Bewegung machen, die es möchte. Niemand darf ihm reinreden.
  • Ich verbessere die Kinder kaum. Wenn sie atonal singen, werte ich das als valide künstlerische Idee. Nur wenn jemand die Aufgabe hat, zu singen, und stattdessen in Sprechgesang verfällt, weise ich darauf hin.

Bei manchen Methoden habe ich noch keinen Weg gefunden, das Bewerten zu umgehen. Vielleicht muss das auch nicht sein, oder es zeigt sich noch ein Weg, die Kinder fachlich zu stärken, ohne ihre Angst vor Fehlern weiter zu füttern.

Mein Fazit: Jede*r kann singen, jede*r ist kreativ. Man muss ihm*ihr nur den Raum und die Erlaubnis dafür geben. Dann darf man gespannt sein, welche Schönheit sich zeigt.

 

[1] Melodie und Text: Uli Führe (*1957), 2001, aus: „Kroko Tarrap“, © Fidula-Verlag Boppard/Rhein

[2] R. Filz, U. Moritz: BodyGroove Kids 1 – Bodypercussion für Kinder von 6-10 Jahren; Helbling Verlag 2012. Auch verfügbar im JeKits-Materialpool

Sonja Katharina Mross

Sonja Katharina Mross ist Sängerin, Songwriterin und Dozentin an der Offenen Jazz Haus Schule in Köln. Sie studierte Jazz/Pop-Gesang an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln. Seitdem veröffentlichte sie 2 EPs mit eigener Musik und arbeitet aktuell mit ihrer Band am ersten Album. Mit dem Vokalorchester NRW, einem improvisationsbasierten Kollektiv professioneller Sänger*innen, tourt sie durch Deutschland. Sie kann auf Auftritte u. a. bei der Cologne Jazzweek und dem Jazzfestival Moers zurückblicken. Als Dozentin der Offenen Jazz Haus Schule arbeitet sie seit 2016 voller Begeisterung mit Kindern und Erwachsenen in zahlreichen musikpädagogischen Projekten.