Bağlama zwischen Experiment/Improvisation, Folk und kultureller Verortung
Nihat Iman
1. Einleitung
Die vorliegende Dokumentation der Fortbildung „Bağlama zwischen Experiment/Improvisation, Folk und kultureller Verortung“ unterteilt sich in zwei Abschnitte. Im ersten Kapitel werde ich versuchen, einige Problematiken des Bağlama-Diskurses in Deutschland zu benennen und dabei auf die Wichtigkeit der Improvisation innerhalb des Diskurses aufmerksam machen. Dabei wird die nationale und kulturelle Verortung der Bağlama eine zentrale Rolle einnehmen. Damit zusammenhängend stellen sich Fragen zur Identität, damit verbunden die Möglichkeiten der Improvisation. Der erste Abschnitt fällt darum bewusst länger aus als der zweite. Einzelne Methoden und Didaktiken, die ich in meiner Fortbildung angewandt habe, unterscheiden sich im Wesentlichen nicht zu den Herangehensweisen in anderen Improvisationsworkshops. Vielmehr haben die hintergründigen Probleme und Fragen, auf die ich oben kurz verwiesen habe, eine größere Relevanz. Im zweiten Kapitel geht es dann schließlich konkret um die in der Fortbildung vorgestellten Methoden.
2. Bağlama und Improvisation
Bevor ich auf die einzelnen Unterteile eingehe, möchte ich einige kurze Bemerkungen zum Thema Bağlama in Verbindung mit Improvisation machen. So wie das Improvisieren für unterschiedliche Stilistiken eine Relevanz hat, hat sie es auch in der anatolischen Volksmusik, die sehr oft mit der Bağlama begleitet wird. Diese Improvisationsform wird meist mit den Begriffen „Açış“ und „Doğaçlama“ bezeichnet. Açış[1] wird häufig sowohl am Anfang eines Konzertes als auch zur Vorbereitung der einzelnen Stücke gespielt (im Sinne von Vorbereitung auf bestimmte Modi etc.). Doğaçlama[2] hingegen wird häufig auch als Einzelstück gespielt.
Beide Formen drücken ästhetisch dasselbe aus, aber in ihrer begrifflichen Bedeutung sind sie nicht exakt voneinander unterscheidbar. Als Folge dessen werden sie meist synonym verwendet. In diesen Improvisationen geht es sehr stark um die bestimmten Modi und Themen aus der anatolischen Volksmusik. Sie werden im „Tempo Rubato“ gespielt. Damit soll aufgezeigt werden, dass Improvisation, auch wenn sie stilistisch und ästhetisch sehr in Modi und Form eingebettet ist, wichtiger Bestandteil der traditionellen Bağlama-Welt ist. Wenn ich hier jedoch von Improvisation spreche, meine ich keineswegs die gerade beschriebenen Improvisationsformen, die ästhetisch nicht von der anatolischen Volksmusik getrennt werden kann. Hier geht es vor allem um die „freie Improvisation“ als Zugang von neuen ästhetischen Handlungsräumen.
2.1 Die natio-kulturelle Verortung
So wie der Titel der Fortbildung „Bağlama zwischen Experiment/Improvisation, Folk und kultureller Verortung“ schon darauf anspielt, wird die Bağlama problematischer Weise oft sowohl auf einer nationalen als auch auf einer kulturellen Ebene verortet, die mit einem angeblich homogenen ästhetischen Bild einhergeht. Auch wenn die Bağlama heute immer wieder einer Instrumenten-Familie aus Vorderasien zugeordnet wird, spielt die Verortung in die Türkei eine sehr starke Rolle. Lange Jahre war die Bezeichnung „türkische Gitarre“ nicht grundlos im Umlauf. Auch kommt der Begriff „türkische Musik“ immer wieder auf, welcher eigentlich die Hegemonie und das Unterdrückungsverhältnis gegenüber in der Türkei lebenden Minderheiten bestärkt und legitimiert.
Dass z. B. Armenier*innen und Kurd*innen im Bağlama-Diskurs in Deutschland häufig unsichtbar gemacht werden, hängt auch mit dieser Verortung zusammen. Darüber hinaus besteht meines Erachtens noch ein weiteres, vielleicht sogar ein übergeordnetes Problem. Wäre es nicht spannend, eine Analogie von der Verortung der Menschen und dem Instrument herzustellen? So wie den angeblich „Anderen“ immer und immer wieder die Frage zu gestellt wird, woher sie eigentlich oder ursprünglich kommen, stellt sich dieselbe Frage auch dem Instrument. Natürlich liegt der Bağlama eine Historie zugrunde, die hier nicht bestritten wird. Aber dass die Bağlama genauso wie alle Instrumente eine bestimmte historische Entwicklung gemacht hat, wird häufig unter den Tisch gekehrt. Die Folge davon ist, dass aufgrund dieser extremen Verortung Bağlama-Spieler*innen im Musik-Diskurs per sé zu „Anderen“ gemacht werden. Diese Alterisierung hängt gleichsam auch mit der Frage der Anerkennung zusammen. Denn genau diese Fremdbestimmung, also die Verortung der Bağlama in die Türkei, hat auch dazu geführt, dass sie immer mehr zu Selbstbestimmung der Bağlama-Spieler*innen geworden ist. Somit haben sich Bağlama-Spieler*innen – durch die fehlende Anerkennung teilweise zurecht – mit dem Kulturbetrieb hier nicht auseinandergesetzt und den Blick immer wieder in die Türkei gewendet. Dies hat immer mehr zu einer Polarisierung in der Kultur geführt, und nun haben wir den „Salat“: Der Großteil des Bağlama-Diskurses in Deutschland wendet sich in die Türkei und vergisst seine eigene Entwicklung.
Um auf die seit Jahren bestehende Problematik hinzuweisen, habe ich sie oben etwas zugespitzt und verkürzt dargestellt. Allerdings liegt meines Erachtens die zentrale Aufgabe für den Bağlama-Diskurs in Deutschland darin, die Bağlama auch in dieser Gesellschaft zu verorten. Damit meine ich nicht, sie vom Bağlama-Diskurs der Türkei zu trennen. Sowohl das Instrument als auch die Subjekte dieses Instrumentes stehen jedoch unter anderen Fragen in dieser Gesellschaft, die mit der reinen Verortung in die Türkei nicht gelöst werden können. Stichwörter von Relevanz sind in diesem Zusammenhang Migration, Post-Migration, Transkulturalität und Hybridität.
2.2 Essentialismus und Exotismus
Die im vorherigen Abschnitt beschriebene Verortung ist untrennbar von einem essentialistischen Denken. Der Bağlama wird somit ein substantielles Seiendes zugesprochen, die nicht historisch, sondern ontologisch betrachtet wird. Gemeint ist damit die Vorstellung, wie die Bağlama zu spielen ist usw. Wenn wir an die Existenz dieses Spielens ontologisch und essentialistisch denken, entwickelt sich ein klares Bild, eine klare Vorstellung von einer Ästhetik, welches zu einer extremen Reproduktion führt und mögliche andere Ästhetiken ausschließt und nicht als Mehrwert sieht. Wenn wir jedoch anfangen, dieses als eine historische Gegebenheit zu sehen, also nur als eine „Tendenz“, dann steht sie auch offen für Neues und kann jegliche Abweichung und Verschiebung als Mehrwert deuten. Auch dies ist jedoch nicht einseitig. Das Begehren der Institutionen und die Produktion des Kulturbetriebs fallen gleich, womit eine scheinhafte Homogenität hergestellt wird. Konkret kann man sagen, dass sich Institutionen und Kulturbetriebe, aber auch Bağlama-Spieler*innen über die Frage der kulturellen Reproduktion Gedanken machen müssen.
Zusammen mit dem essentialistischen Denken entsteht zugleich auch eine Exotisierung der Bağlama – also auch eine Alterisierung. Der Exotismus auf der ästhetischen Ebene geht mit einer Reduzierung auf das Kleinste einher. So kommen Sätze vor wie: „Auf der Bağlama kann man auch andere Töne als auf dem Klavier spielen – und auch andere Rhythmen.“ Auch wenn dies vorerst problemlos klingt, ist es etwas verwirrend. Wie können Töne (gemeint sind die Mikrotöne auf der Bağlama) anders sein, wenn sie erstens in der Obertonreihe vorkommen, damit in allen Tönen schon immanent sind, und zweitens mindestens unmittelbar auf allen bundlosen Instrumenten zu Verfügung stehen? Ist dies nicht erneut ein Wunsch nach einer Alterisierung? Erneut möchte ich erwähnen, dass sich diese Anrufung und Adressierung der Bağlama als „Andere“ in die Identität einschreibt und alle Spieler*innen gezwungenermaßen sich mit dieser Identität auseinandersetzen müssen. Die Aufgabe der Institutionen und der Bağlama-Spieler*innen wäre hierbei, die „Andersheit“ zu dekonstruieren. Sie sollten auch nach den Kategorien der Voraussetzungen und Natürlichkeiten schauen. Besonders die Suche der jungen Bağlama-Spieler*innen nach der „ursprünglichen Bağlama“ macht die angenommene Adressierung sichtbar. Vermehrt kommt die „Dede Sazı“ mit dem Duktus des Wahren, des Eigentlichen und Ursprünglichen, welches zu begehren ist, in den Vorderschein. Das essentialistische Denken spiegelt sich auch im Bağlama-Diskurs wider.
Am Ende dieses Abschnittes möchte ich betonen, dass die musikalisch- ästhetische Identität ein wichtiger Teil des Subjekts ist und keinesfalls von ihrer Identität getrennt betrachtet werden kann. Institutionen und Bağlama-Spieler*innen sind vor die Aufgabe gestellt die Ersteren ihre Anrufungen und die Letzteren ihre Identität fern/frei von Essentialismus kritisch zu reflektieren. Ich sehe somit ein essentialistisches Denken als Ausgrenzungsmechanismus und dezidiert nicht fruchtbar für den Diskurs.
2.3 Improvisation als Eröffnung von neuen Handlungsräumen
Genau hier setzt meine Idee zur Wichtigkeit der freien Improvisation ein. Ich sehe die Auseinandersetzung mit genau jenen Identitätsfragen im Rahmen von Improvisationskonzepten als einen großen Mehrwert. So kann man einen Umgang und einen Ausdruck von „Eigenheit“ und „Andersheit“ finden bzw. dekonstruieren. Darüber hinaus besteht weiterhin das Problem, dass für die Bağlama wenige Kompositionen oder Arrangements für unterschiedliche Besetzungen zur Verfügung stehen. Dieses Problem kommt immer wieder auf, wenn die Bağlama anderen Instrumenten begegnet. Während dieser Begegnungen reduzieren sich die Handlungsräume häufig auf traditionelle Melodien, die dann mit einigen Akkorden „arrangiert“ werden. Dabei bilden die unterschiedlichen Formen von Improvisation potenziell Räume, in denen auch neue ästhetische Ausdrucksformen entwickelt werden können. Deshalb wäre die Auseinandersetzung mit unterschiedlich stilistischen Improvisationen fruchtbar für die Gestaltung von neuen Handlungsräumen. Ohne in ein Ranking fallen zu wollen, möchte ich trotzdem die freie Improvisation betonen. Die freie Improvisation in ihrer formlosen Form bietet einen direkten Zugang, der vorerst auch ohne viel Wissen über Stilistik, Genre etc. funktionieren kann. Sie bietet viel Freiraum und öffnet dadurch auch den Raum für einen experimentellen Zugang zum Instrument. So können z. B. externe Gegenstände, die nicht üblich für das Spielen der Bağlama sind, zum Einsatz kommen. Das würde nicht nur einen ästhetischen Mehrwert einbringen, sondern könnte gleichfalls die Frage des „Natürlichen“ und „Normalen“ anregen. Durch experimentelle Zugänge können Natürlichkeitskonstruktionen in Frage gestellt werden, die den subversiven Handlungsraum eröffnen könnten. Diese Verschiebung auf unterschiedlichen Ebenen kann gleichfalls die Frage nach der Identität anregen. Wenn es gelingt, diese Verschiebung als eine ästhetische Erfahrung wahrzunehmen, die Aspekte einer Entnaturalisierung und Entnormalisierung beinhaltet, kann sie zugleich Natürlichkeitskonstruktionen der Identität reflektieren. Damit würden sich „in Stein gemeißelte Gesetze“ des Bağlama-Diskurses in Bewegung setzen. Zuletzt wäre es wichtig, Improvisation auch als einen Prozess der Kreativität zu verstehen, der wiederum neue Handlungsräume schafft. Allerdings sollte dies nur als eine mögliche Lesart betrachtet werden, denn es gäbe sicherlich in unterschiedlichen Herangehensweisen und Formaten auch die Möglichkeit der subversiven Handlung.
3. Fortbildung
In der Fortbildung im November 2022 habe ich sowohl praktische als auch theoretische Schwerpunkte eingesetzt und diese auf den Tag verteilt. Für die Praxis-Einheiten habe ich mich auf Improvisationsformen und -konzepte fokussiert. Zunächst wurde ohne jegliche Erklärung improvisiert. Anschließend habe ich die erste Anweisung für die zweite Improvisation gegeben: „Spielt nun möglichst anders als in der ersten Impro.“ Daraufhin haben wir versucht, beide Improvisationen zu reflektieren und möglichst zu benennen:
- Welche Art oder Form hat die Improvisation?
- Was ist dabei geschehen?
- Wo können wir sie einordnen?
- s. w.
Nach der Reflexionsphase folgte erneut eine Anweisung: „Spielt nun erneut möglichst anders als in der ersten und der zweiten Impro.“ Die Frage hinter diesen Anweisungen war, ob es erstens möglich wird, durch die Anforderung, anders zu spielen, auch eigene Grenzen kennenzulernen, und zweitens, ob sich innerhalb dieses Zwanges auch neue Formen entwickeln. Diesen ersten Block haben wir dann mit einer Reflexionsphase beendet, an die ich einen kleinen Input zu unterschiedlichen Formen der Improvisation gegeben habe (rhythmische/a-rhythmische, tonale/a-tonale etc.).
Im zweiten Block der Praxis haben wir uns mit einem Improvisationskonzept beschäftigt. Hier ging es vor allem um die Übertragung von traditionellen Techniken in die experimentelle Improvisation. Jede*r hat auf seinem*ihrem eigenen Instrument eine für das Instrument besondere und übliche Technik ausgesucht. Die Aufgabe war, diese eine Technik möglichst dekontextualisiert zu spielen. Es folgte eine Übung, die mehr didaktisch als ästhetisch gedacht war: Die genannten Techniken wurden zu Improvisationen erweitert und bei jedem Durchgang um mehrere Techniken ergänzt. Ziel war, bestimmte starr und unter viel Anspannung erlernte Techniken in dieser dekontextualisierten freien Improvisation ohne Anspannung und frei zu spielen. Die Idee dabei: Die kontinuierlichen Wiederholungen und der ästhetische Ausdruck verleihen dem Lernprozess einer bestimmten Technik eine Lockerheit, die zugleich auch musikalisch begleitet wird. Nach einer kurzen Pause haben wir uns mit der ersten Theoriephase beschäftigt, wo es um die Frage der „Neuen Musik“ ging. Zuerst wurden Gedanken und unterschiedliche Erfahrungen mit Neuer Musik gesammelt und diskutiert. Darauf folgte ein etwas längerer Input zur Neuer Musik, unterteilt in drei Kategorien: 1. Begriffe; 2. Historischer Kontext; 3. Philosophie der Neuen Musik.
Auch wenn der Begriff der „Neuen Musik“ sich durchgesetzt hat, gibt es diverse Bezeichnungsversuche für diese Musik: Atonale Musik, zeitgenössische Musik, Avantgarde, Moderne Musik etc. Auf diese Begriffe bin ich nicht vertieft eingegangen, obgleich sie bestimmte Problematiken hätten aufdecken können. Vielmehr war der historische Kontext für mich bedeutsamer. In diesem Punkt ging es mir vor allem darum, den ästhetischen Werdegang zwischen den Anfängen der Wiener Schule und dem Jetzt nachzuzeichnen. Im Konkreten waren es Beispiele von Schönberg, Cage, Ligeti, Stockhausen und als Zeitgenosse die interdisziplinären Arbeiten von Anissegos. Dabei versuchte ich immer, mit Hörbeispielen auf bestimmte Charakteristiken wie z. B. die von Schönberg entwickelte „Zwölftontechnik“, einzugehen. Es war für mich von großer Bedeutung, auch das Aufbrechen der Tonalität aufzuzeigen, die immer zugleich auch eine neue Form der Rationalisierung und eine neue Unterwerfung ist. Da, wo sie sich von etwas Befreit, bekommt Musik gezwungenermaßen neue Fesseln. Auch ist bemerkenswert, dass seit der Zeit der Wiener Schule der Umgang mit Dissonanzen vermehrt genutzt wurde und sogar einen besonderen und wichtigen Stellenwert einnahm, was sich von Cage bis heute durchsetzte. Ab der Zeit von John Cage wird es interessant: Nicht nur die Gesetzte der Ästhetik werden in Frage gestellt, sondern generell die Kunstform an sich, wie es sich in den prominenten Beispielen „4’33“ und „Water Walk“ widerspiegelt. Im Zuge dessen haben wir im Rahmen der Fortbildung auch über einige Zitate von Cage diskutuiert, die einige Überlegungen über unsere ästhetische Wahrnehmung bieten.
Ein Beispiel: „Es ist fürwahr ein mißlicher Umstand, daß Musikhörer nicht eigentlich die Musik, sondern die ausgelösten Assoziationen und Empfindungen wahrnehmen und registrieren, also nicht das, was klingt, sondern das, was in ihnen widerklingt. Und wenn – das ist noch der günstige Fall – Musikalisches bei ihnen angesprochen wird und widerklingt, dann versäumen sie doch bestimmt das, was im Augenblick geschieht: Sie hören Erinnerungsbilder statt der augenblicklich gegenwärtigen Klänge – oder Nicht-Klänge.“ [3]
Mit Ligeti zusammen kam auch immer wieder die Frage des Verstehens auf. Sowohl Atmosphärik als auch die grafische Notation spielten dabei eine wichtige Rolle. Auch dies haben wir in der Fortbildung zusammen ausprobiert. Um den Bogen zur Elektronik ziehen zu können haben wir uns einige Klang-Studien von Stockhausen angehört. Schließlich machte ich noch auf die angesprochene Interdisziplinarität in der Neuen Musik und vor allem in der experimentellen Improvisation aufmerksam. Dafür nutzte ich zwei Arbeiten von Anissegos: „KAYA“ und „Piano Etude Nr. 2“.
Am Ende des Theorie-Blocks standen noch die Diskussion und Überlegungen zur Philosophie der Neuen Musik an. Bevor ich die Diskussionsrunde eröffnete, gab ich einen kleinen Input zu Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ und „Ästhetische Theorie“. Geplant war, vor allem auf die zentrale Analyse von Adorno zu Schönberg und Strawinsky und damit zusammenhängend auch auf die Mimesis-Theorie in der Ästhetischen Theorie weiter einzugehen. Da die vorherigen Improvisationen für die Teilnehmer*innen jedoch spannender waren, haben wir uns entschlossen den Theorie-Block zu verkürzen und mehr Zeit für das Improvisieren zu nutzen. Begriffe wie z. B. die Dialektik, identifizierendes Denken, Nicht-Verstehen, Vorrang des Objekts, Tendenz des Materials, Rätselcharakter etc. blieben dadurch unbehandelt. In den letzten beiden Blöcken der Fortbildung ging es wieder um Improvisationskonzepte und didaktische Überlegungen für den Einsatz der experimentellen Improvisation im Unterricht. Für die Entwicklung der Improvisationskonzepte habe ich mich stark von der CommunityMusic-Arbeit bei „Sounds auf Buchheim“, ein Projekt der Offenen Jazz Haus Schule, und der Zusammenarbeit im Ensemble „Unsub-Tük Kollektiv“ beeinflussen lassen. So haben wir in der Fortbildung versucht, mithilfe abstrakter Themen, Fragen etc. zu improvisieren.
Im letzten Block des Workshops hat jede*r Teilnehmer*in einzeln ein Symbol auf ein Blatt gezeichnet, welches wir zunächst nebeneinander auf den Boden gelegt haben. Daraufhin haben wir versucht, auf den Instrumenten diese Symbole assoziativ nachzuspielen. Nach einer kurzen Vorstellung der Sounds von den Teilnehmer*innen haben wir gemeinsam diese Symbole in verschiedenen Größen auf ein Flipchart übertragen. Auf der Basis dieses Bildes haben wir dann zusammen improvisiert. Auch diese Methode, die im Kontext der Elementaren Musikpädagogik öfters benutzt wird, kann zu einem experimentellen Zugang zum Instrument führen. Gleichzeitig kann diese Methode auch ein Musizieren ohne Blockade fördern.
Ich sehe den pädagogischen Mehrwert der experimentellen Improvisation auf zwei Ebenen:
- Mit ihrer Spontanität, Offenheit, Konzeptualisierung, Dekontextualisierung und Dekonstruktion haben experimentelle Improvisationen eine besondere ästhetische Ausdrucksform. Sie können zur Öffnung von neuen Handlungsräumen führen und die Begegnung mit dem Selbst und der Fremdwelt fördern.
- Sie kann auch zum Erlernen von bestimmten Techniken eingesetzt werden, die im optimalen Fall zum freien Musizieren führt.
4. Nachüberlegungen
Nach den recht positiven Rückmeldungen der Teilnehmer*innen habe ich mir Gedanken über die Planung und Durchführung gemacht. Trotz der zunächst sehr didaktischen Herangehensweise war es für mich erfreulich, dass die Improvisationen gut gelangen, was zur Folge hatte, dass sich die gesamte Gruppe auf die Improvisationen fokussieren wollte. In den Rückmeldungen habe ich auch hören können, dass bestimmte Übungen zu einem neuen Kennenlernen des Instruments führten. Da Neue Musik und experimentelle Improvisation häufig nur am Rande oder als didaktisches Konzept auftauchen, wie es in dieser Fortbildung auch geschehen ist, war meine eigentliche Intention, auch vertieft in ihre Philosophie einzutauchen. Leider kam diese theoretische Reflexion aus zeitlichen Gründen etwas kurz. Neue Musik und experimentelle Improvisationen sind für die Bağlama-Community – trotz der Arbeiten von Kemal Dinç, die nun schon mittlerweile 10 Jahre alt sind – immer noch neu und fremd. Ich vermute, dass dies auch mit Identitätsfragen zu tun hat, die ich am Anfang dieser Dokumentation skizziert habe. Die jahrelange Nicht-Anerkennung der Institutionen hat zu einer Polarisierung und zugleich zu einer Verschlossenheit der Gemeinden und Kulturvereine geführt. Auch wenn diese Problematik heute vielleicht nicht in den Vordergrund rückt, weil die Bağlama nunmehr in vielen Musikschulen angeboten wird, bleibt sie trotz alledem aktuell. Denn wenn man sich den Bağlama-Diskurs der Musikschulen anschaut, funktioniert er innerhalb der Institutionen doch wiederum sehr dichotomisch: Abgesehen von einzelnen Projekten gibt es immer noch wenig Begegnungsraum. Dies hängt auch mit der schon beschriebenen Problematik des fehlenden Repertoires zusammen. Daher sehe ich die Improvisation als einen sehr wichtigen Schlüssel zur Lösung dieser Problematik.
[1] wörtlich übersetzt: Eröffnung
[2] übersetzt ähnlich wie: naturgegeben oder naturgewollt
[3] Dibelius, Ulrich (1998): „Moderne Musik nach 1945“, Piper Verlag, München, S. 223.