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Instant Composing, freie Improvisations- und Kompositionskonzepte

Jan Schreiner

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1. Komposition und Improvisation

Komposition und Improvisation liegen näher beieinander, als man im ersten Moment vermuten mag. Komposition ist Improvisation in Zeitlupe, Improvisation ist Komposition im Moment – und oft in Anwesenheit von Publikum.

In meiner Arbeit mit jungen Menschen versuche ich immer, einen integrativen Ansatz zu verfolgen, quasi nach dem Motto: „Wir sitzen alle im gleichen Boot, ich sitze nur schon etwas länger.“ Die allermeisten jungen Musiker*innen sind es gewohnt, dass Musizieren wie Frontalunterricht in der Schule abläuft. Sprich, jemand Älteres hat sich etwas überlegt und gibt dies sozusagen von oben herab vor. Etwas überspitzt formuliert haben sich das die Jungen gefälligst anzuhören und exakt nach den Vorstellungen der Alten umzusetzen. Eine eigene Meinung können die Jungen kaum äußern, da diese ja auf keinerlei Erfahrung beruhen kann.

Es war mein Ziel, den Teilnehmenden in unserem Large Ensemble-Workshop eine andere Art des gemeinsamen Musizierens, ja des gemeinsamen Komponierens im Moment, nahezubringen. Der Wirkungsbereich wird also für jeden Einzelnen und jede Einzelne enorm erweitert: Weg vom reinen Wiedergeben der Noten, hin zum selbst gestalten, zum jederzeit Einfluss nehmen und Verantwortung für die Musik und die Gruppe übernehmen.

Hier gilt es also, Erfahrung in folgenden Punkten zu sammeln:

  • Wann und wie setze ich mit einer eigenen Idee einen Impuls?
  • Wann gliedere ich mich in eine bestehende Struktur ein und gehe in eine begleitende Rolle?
  • Wann spiele ich gar nicht?
  • Wie haben die leisen Instrumente die Möglichkeit, Ideen einzubringen?
  • Wann haben die lauten Instrumente die Möglichkeit, ihre Stärken auszuspielen?
  • Hat das, was ich gerade spiele, einen Sinn oder spiele ich es nur, weil ich denke, dass ich spielen sollte?

2. Ausprobieren, erklären und besprechen

All diese Fragen spielen beim „normalen“ Spiel eine untergeordnete oder gar keine Rolle, da diese bereits im Vorfeld von dem*der Komponist*in beantwortet und in den Noten festgehalten wurden. Daher müssen sich die Teilnehmenden erst an die neue Art des Musizierens gewöhnen und sich trauen. Dafür ist es wichtig, verschiedene Dinge auszuprobieren, viel zu erklären und gemeinsam darüber zu sprechen. Nicht frontal, sondern miteinander.

So müssen z. B. die Geigen den Blechbläser*innen und der Rhythmusgruppe erklären, wie es sich für sie anfühlt, dass sie in einem lauten Tutti nicht laut genug spielen können und es daher quasi egal ist, was sie spielen. Die Blechbläser*innen wiederum müssen den Streicher*innen erklären, dass es wahnsinnig schwierig ist, auf ihren Instrumenten wirklich pianissimo zu spielen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Basierend auf diesem Gegenseitigen Verständnis entstehen sofort neue Strukturen beim gemeinsamen „Komponieren“.

Gleichzeitig sind alle gefordert, Ihre Instrumente dahingehend zu erkunden, was denn für andere oder auch sogenannte „erweiterte“ Spieltechniken möglich sind. Die meisten jungen Menschen sind darauf getrimmt, den „schönsten Ton“ aus Ihren Instrumenten zu kitzeln. Dass dies nur ein Aspekt von vielen ist, wird Ihnen bei dieser Art des Musizierens schnell klar – und sofort öffnen sich ganz andere klangliche Welten.

Bei lauteren Strukturen können die Streicher*innen z. B. lautere „Kratzgeräusche“ mit dem Bogen auf den Saiten erzeugen oder perkussiver denken. Wird es sehr leise, können die Blechbläser*innen z. B. Luftgeräusche produzieren oder mit den Ventilen (die Saxofone mit den Klappen) Klänge erzeugen. Diese beschriebenen Fähigkeiten müssen genauso geübt und verinnerlicht werden wie das Notenlesen und das klassische Spielen im Satz.

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3. Improvisationsübungen

Neben dem Spielen und Ausprobieren in der großen Gruppe ist das Improvisieren in kleinen Gruppen bis hin zu Solo- oder Duo-Situationen wichtig.

Hier einige Beispiele:

  • ein Duo Rücken an Rücken mit geschlossenen Augen spielen, ohne vorher zu wissen, mit wem bzw. welchem Instrument man es zu tun hat; man muss also sehr schnell reagieren und sich auf die Situation einstellen,
  • „Staffellauf“: Hierbei sitzen die Teilnehme*innen im Kreis; zwei Sitznachbar*innen (Nr. 1 und 2) beginnen, ein Duo zu improvisieren; nach einer gewissen Zeit steigt der*die nächste Musiker*in (Nr. 3) ein, es entsteht also ein Trio; nun steigt Nr. 1 aus; alle Entscheidungen (Zeitpunkt des Ein-/Ausstiegs, Art des Spielens etc.) treffen die Teilnehmer*innen selbstständig,
  • Vorgabe gewisser Limitationen wie z. B.:
    • es dürfen nur „nicht normale“ Sounds verwendet werden,
    • es dürfen nur hohe/tiefe/laute/leise/lange/kurze Töne verwendet werden,
    • man darf nur kurze Einwürfe spielen, muss danach eine Pause machen,
    • die Stücke dürfen nicht länger als eine Minute sein,
    • das Stück muss mindestens 30 Minuten dauern.

Alle diese Übungen sorgen dafür, dass die Teilnehmenden in ungewohnte Spielsituationen kommen und selbst Entscheidungen treffen müssen. Dies bedeutet, dass man sehr genau zuhören muss und „Dienst nach Vorschrift“ nicht funktioniert. Wichtig dabei ist, dass die Beteiligten nach jeder Übung nach ihrer Meinung und ihrem Erleben der Situation befragt werden. Daraus entstehen oft im Moment Ideen für neue Übungen. Somit entsteht eine Eigendynamik in der Gruppe, die sehr erwünscht ist.

4. Die Rolle der Dozent*innen

Mein Ziel ist letztlich, mich als Dozent quasi überflüssig zu machen. Ich bringe den Stein ins Rollen und biete Hilfestellung, aber am Ende entstehen Kompositionen völlig ohne meine Einflussnahme. Diese Erfahrungen erweitern den Horizont der jungen Teilnehmer*innen und öffnen deren Ohren und Sinne auch in jeder anderen Form des Musizierens.

Die Gedanken, die sie sich während des Improvisierens und zwischen den einzelnen Übungen machen, kommen denen, die sich Komponist*innen machen, sehr nahe. Somit werden sozusagen alle Beteiligten im Moment ebenfalls zu Komponist*nnen – zumindest für einen kurzen Moment. Das sorgt für ein tieferes Verständnis von Musik, nicht nur auf rationaler, sondern vor allem auch auf emotionaler und intuitiver Ebene.

Instant Composing mit kleinerer Gruppe

Instant Composing mit dem Large Ensemble

5. Musikschulnetzwerk "JIP"

Dieser Text entstand im Nachgang zum Large Ensemble-Projekt 2022 des Musikschulnetzwerks „JIP“ (Jazz, Improvisation, Pop), ein Zusammenschluss der Städt. Musikschule Aachen, der Städt. Max-Bruch-Musikschule Bergisch Gladbach, der Kunst- und Musikschule der Stadt Brühl, der Musik- und Kunstschule der Stadt Duisburg, der Musikschule der Stadt Leverkusen, der Offenen Jazz Haus Schule Köln und der Musikschule VHS Voreifel. Das JIP-Netzwerk dient der Stärkung und Weiterentwicklung des Bereichs Jazz, Pop, improvisierte und aktuelle Musik in Musikschulen. Das jährlich stattfindende Large Ensemble-Projekt ist das sicht- und hörbare Aushängeschild des Netzwerks. Besonders interessierte Musiker*innen kommen zu Arbeitsphasen zusammen und proben unter professioneller Leitung mit unterschiedlichen künstlerischen Schwerpunkten gemeinsam mit herausragenden Gastsolist*innen.

Jan Schreiner

Jan Schreiner ist Bassposaunist, Tubist und Komponist, unterrichtet an der Musikschule Leverkusen sowie an der Hochschule für Musik Mainz. Er leitet das Jan Schreiner Large Ensemble und ist Mitglied des Vertigo Trombone Quartett mit Nils Wogram, Andreas Tschopp und Bernhard Bamert.